Tag eins

Es ist der erste Montag der Ausgangsbeschränkungen. Homeoffice. Ich starte mit einem Blick aufs Smartphone, checke meine Nachrichten, dann meine Mailbox. Ich beantworte unzählige E-Mails, verschicke Anweisungen, kümmere mich um Anfragen. Dazwischen der Blick auf die aktualisierten Corona-Fälle in meinem Bundesland, dann österreichweit, zuletzt weltweit. Dazwischen immer wieder der Blick auf das Display, die "Besuch-Oma-Gruppe". Nichts Neues. Wir begleiten meine Mutter seit drei Tagen palliativ in ihren eigenen vier Wänden – meine Geschwister, einige Nichten, die Pflegerin und ich. Bald wird nichts mehr sein wie es war.

Um 13 Uhr bin ich wie vereinbart im Haus meiner Mutter. Ich betrete den Raum. Auf dem Tisch Desinfektionslösung. Es hat sich seit gestern nichts geändert. Sie möchte noch so viel sagen, es ist nur zu erahnen, was die Worte bedeuten. Das Gesicht wirkt verzweifelt, der Körper verkrampft. Die Hand greift ins Leere, ich nehme sie in meine. Ich schiebe mich in ihren Blick, der kaum mehr etwas zu fassen scheint. Sie fokussiert kurz. Erkennt sie mich? Sie beruhigt sich wieder. Einige Stunden sitze ich an ihrem Bett und stehe ihr bei.

Ein geliebter Enkel meiner Mutter ist da, ich verlasse den Raum. Ihr Strickkorb steht in der Stube, angefangene Socken in Regenbogenfarben warten auf sie. Später sitze ich mit meiner Schwester im Garten und wärme Gesicht und Hände in der Sonne. Ich verspreche ihr, die für sie gedachten Socken zu vollenden.

Ich stricke jetzt für sie weiter.
Foto: Monika Heimel

Tag zwei

Die Haustürklingel reißt mich aus dem Schlaf. Es ist schon hell, ich habe doch noch schlafen können. Um halb vier habe ich zuletzt auf die Uhr gesehen, jetzt ist es kurz vor sieben. Wieder das Klingeln. Verwirrt stehe ich auf, schön langsam werde ich klar. Mein Bruder steht vor der Tür, er schaut mich an, wortlos. Meine Mutter ist eingeschlafen, für immer.

Ich bin die Letzte der großen Familie, die sich von ihr verabschiedet. Ich habe sie eine halbe Stunde ganz für mich allein. Ich bin so dankbar dafür. Dann macht jeder noch ein Kreuzzeichen auf ihre Stirn, bevor ihr Körper aus unserem Leben verschwindet.

Desinfektionsmittel. Mein Mann ist mir nah. Zu den anderen versuchen wir Abstand zu wahren. Keine Umarmungen. Gemeinsames Vergießen von Tränen in Distanz.

Der Bestatter hat uns über die Möglichkeiten für ein Begräbnis mit Ausgangsbeschränkung informiert. Schnell ist klar, wie es in dieser Woche weitergehen wird, abseits von Corona.

Am Abend ist eine Kerze vor dem Bild meiner Mutter entzündet. Meine beiden Töchter sind dabei, wie ich mit meinem Mann im Wohnzimmer eine Andacht improvisiere. Ich erzähle von ihrem Leben, wir singen, beten sogar. Wir sind über meine Mutter mit den Geschwistern verbunden, die ihrer in ihrem jeweiligen Zuhause auf ihre Weise gedenken.

Tag drei

Homeoffice bis Mittag. Ich bin froh, viel zu tun zu haben. Es fühlt sich so beruhigend normal an. Dazwischen wieder der schon gewohnte, jetzt nicht mehr nervöse Blick in die "Besuch-Oma-Gruppe". Weniges muss noch organisiert werden, dank Corona gibt es fast nichts zu tun. Keine persönlichen Einladungen zum Begräbnis, keine Aufträge bei Floristen, kein Requiem, keine Zehrung.

Am Nachmittag legen wir die Parte meiner Mutter auf die Gartenbank meiner betagten Schwiegereltern, dort liegt bereits ein Kuvert mit lieben Worten für mich zum Abholen bereit. Kommunikation abseits von Smartphone und E-Mail in Zeiten von Corona. Wir möchten nicht zum Überträger des Virus werden, sie gehören in die Risikogruppe.

Auf dem Rückweg dann der Gedanke, dass der Lebenswille meiner Mutter gebrochen wurde, weil sie die Zeit der Isolation von ihren Lieben so sehr fürchtete. Vielleicht hat das unbewusst zu ihrem plötzlichen Abschied beigetragen. Ich stelle mein Lieblingsfoto von ihr als Startbildschirm am Smartphone ein.

Am Abend entzünde ich wieder eine Kerze vor ihrem Foto, ich freue mich über den Anblick. Sie strahlt Güte aus. Sie war immer glücklich, wenn ich sie besucht habe, und dankbar.

Tag vier

Wieder Homeoffice, ich mache das jetzt den dritten Tag seit Beginn der Ausgangsbeschränkung. Es fühlt sich an, als hätte ich immer schon so gearbeitet. Später gehe ich mit meinem Mann die große Hausrunde. Ich bin unruhig. Mein Alltag ist so unaufgeregt normal, dabei ist nichts wie immer. Jeder Blick aufs Smartphone erinnert mich daran.

Am Abend spielen wir mit den Kindern ein Brettspiel. Ich bin unendlich müde und sehne mich nach Ruhe und Gedanken an meine Mutter. Mein Mann und die Kinder haben heute keine Lust auf Andacht. Ich ziehe mich mit Bild und Kerze zurück.

Tag fünf

Heute habe ich frei. Schon nach dem Frühstück treiben mich Wärme und Sonne in den Garten. Ich schneide viele Sträucher, als gäbe es heuer einen Gestaltungswettbewerb zu gewinnen. Ich bin froh, etwas zu tun zu haben. Später spiele ich mit der Tochter.

Ich bin unruhig. Die Urne mit der Asche meiner Mutter steht heute im Segnungsraum ihrer Pfarre. Nachbarn, Freunde und Verwandte sollen so die Möglichkeit haben, sich von ihr zu verabschieden, ohne sich dabei körperlich zu nah zu kommen. Der Bestatter hat Desinfektionsmittel bereitgestellt.

Es gibt keine Betstunde am Abend vor dem Begräbnis, wie bei uns sonst üblich. Wir haben eine gemeinsame Andacht aller ihr Nahestehenden über die sozialen Medien organisiert, eine Andacht an erhellten Punkten über halb Österreich verstreut. Besondere Zeiten fordern und schenken uns besondere Rituale. In meinem Zuhause wird es ein sehr schöner Abend. Meine Kinder erzählen von Erlebnissen mit ihrer Oma, ich zeige Fotos aus meiner Kindheit, fast vergessene Erinnerungen tauchen auf.

Tag sechs

Ich wache sehr früh auf und habe das unwiderstehliche Verlangen, ihr an der Urne noch ein letztes Mal nahe zu sein. Ich fahre die fünfzehn Kilometer zum Segnungsraum. Er ist verschlossen.

Einige Stunden später ist es dann so weit. Ich hole mein Vorhaben vom frühen Morgen in Ruhe nach. Dann warte ich mit Mann und Töchtern in der Stille der Kirche, bis alle meine Geschwister und ihre Kinder auf dem Friedhof eingetroffen sind. Wir begrüßen einander, innerlich verbunden, ein Lächeln, äußerlich mit Abstand. Unter der Voraussetzung, dass wir in Gruppen zu maximal fünf Personen stehen, die zwei Meter Abstand zueinander halten, kann die Beisetzung stattfinden.

Mutters Enkel spielen auf Instrumenten, wir singen ihre Lieblingslieder, Fürbitten werden gelesen. Dann stehen wir verstreut rund ums Grab, halten uns an die Vorgaben. Es ist ein trauriger Abschied, mit oder ohne Corona.

Später am Nachmittag kann ich mich aufraffen, den aus dem Elternhaus mitgenommenen Strickkorb mit den Socken in die Hand zu nehmen. Ich stricke jetzt für sie weiter. Dabei wird mir klar, was ich später mit einem Foto an meine Schwester schreibe: Live goes on, in bunten Farben. (Monika Heimel, 9.3.2021)