Es wird wieder wärmer im Land. Aber was die freie Meinungsäußerung anbelangt, kam es die letzten Tage zu einer merklichen Abkühlung: Nachdem Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) medial groß angekündigt hatte, rechtliche Schritte gegen den Politaktivisten Rudi Fußi zu prüfen, weil dieser in einem Tweet Polizeibeamte – freundlich übersetzt – als nicht sehr intelligent bezeichnet hatte, warnten Beobachter vor den "chilling effects" dieser Aktion.

Der Begriff beschreibt, welch abschreckende Wirkung Eingriffe in das Grundrecht eines Einzelnen für die vielen haben kann, weil sie ähnliche Konsequenzen befürchten. Im schlimmsten Fall haben die "chilling effects", was die Meinungsfreiheit betrifft, Selbstzensur zur Folge: Die Schere im Kopf geht auf. Und die ist für eine Demokratie gefährlich.

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) will rechtliche Schritte gegen den Politaktivisten Rudi Fußi prüfen.
Foto: APA/HERBERT NEUBAUER

Autoritäre Staaten haben diese Taktik perfektioniert, so etwa Singapur, wo die Regierung bewertet, was im öffentlichen Diskurs zulässig ist und was "den öffentlichen Frieden" gefährdet. Seit Ende 2019 darf die Regierung dort nun auch Beiträge von Bloggern oder Medien mit Berichtigungshinweisen versehen – Facebook kritisierte das zwar, beugte sich letzten Endes aber den Regeln. Beworben wird das neue Gesetz mit dem Kampf gegen "Fake-News". Außerdem gibt es seit vielen Jahren scharfe Verleumdungsgesetze mit drakonischen Strafen.

Grundsatz der Gewaltentrennung

Apropos Bestrafung: Die fordert nicht nur der Innenminister für Fußi. Auch Finanzminister Gernot Blümel machte deutlich, dass alle, die ihm Korruption vorwerfen, geklagt werden. Weder er noch die Wiener ÖVP hätten direkt oder indirekt Spenden von Novomatic erhalten. 13 Klagen wegen Beleidigung oder übler Nachrede wurden übermittelt, "etliche" weitere überprüfe man derzeit.

Ist Österreich auf dem besten Weg dahin, ein europäisches Singapur zu werden, weil der Innenminister gegen einen wirklich nicht sehr freundlichen Tweet über "seine" Polizisten die Staatsanwaltschaft einschaltet? Oder weil der Finanzminister seinen Ruf mit Klagen verteidigt? Nein, denn der Grundsatz der Gewaltentrennung ist in Österreich fest verankert, auch wenn der Brief von Bundeskanzler Kurz an die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft aktuell für Verstimmungen sorgt, während in Singapur beispielsweise das Parlament, nicht die Gerichte, freie Meinungsäußerung einschränken kann.

Natürlich gelangt man in dieser Debatte unweigerlich zu der Frage, wo Kritik endet und Beleidigung beginnt – und ob Behörden oder Politiker sich solche gefallen lassen müssen. Im Innenministerium wird betont, Hass im Netz müsse konsequent verfolgt werden – egal von welcher Seite er kommt.

Die Antwort auf diese Frage ist ganz einfach: Natürlich muss sich niemand eine Beleidigung gefallen lassen, weder online noch offline. Das ist aber auch nicht der entscheidende Punkt. Denn es gibt auch andere Möglichkeiten für Politiker und Behörden, mit Beleidigungen oder Anschuldigungen umzugehen, als öffentliche Klagsdrohungen und Pranger. Es ist exakt dieses Vorgehen, das für die "chilling effects" sorgt.

Es ist deswegen gut und wichtig, dass Expertinnen auf die Signalwirkung von Nehammers Vorgehen hingewiesen haben, es klar als Einschüchterung bewerten und vor den Folgen warnen. Denn aus Singapur weiß man aus Untersuchungen auch, dass es sehr schnell gehen kann, bis die Schere im Kopf offen ist. (Lara Hagen, 23.2.2021)