Grabschändungen verschiedener Ausprägungen zählen zu den häufigsten Formen antisemitischer Gewalt, die, seit 1945 in Europa in regelmäßigen Abständen verübt, immer wieder für Schlagzeilen sorgen. Die Schändungen sind als stellvertretender Akt, als eine Art des Terrorismus zu interpretieren. Das Beschmieren, Umwerfen und Zerstören von Grabsteinen und Friedhofsmauern ist Ausdruck von blindem Hass, von Antisemitismus, von Vorurteilen und Feigheit; der Vandalismus richtet sich zwar nicht direkt gegen Menschen, aber eindeutig gegen jüdische Einrichtungen, Kultstätten, gegen Riten, gegen Stätten der Erinnerung und der Kultur mit tiefgehender emotionaler und religiöser Bedeutung.

Tim Corbett, "Die Grabstätten meiner Väter. Die jüdischen Friedhöfe in Wien". € 80,– / 1042 S., Böhlau, Wien 2021
Foto: Böhlau

Die heute in Wien noch existierenden jüdischen Friedhöfe (in der Seegasse, in Währing, in Döbling, am Zentralfriedhof und in Floridsdorf) sind stumme Zeugen der wechselvollen Vergangenheit. Aktive Erinnerungsarbeit leistet der Historiker Tim Corbett, unterstützt durch den Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus, den Zukunftsfonds der Republik und das Wiener Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien, indem er nun erstmals eine umfassende Analyse des Werdegangs der Wiener jüdischen Sepulkralkultur vom Mittelalter bis zum heutigen Tag, die zugleich ein neues Licht auf die Historie der jüdischen Gemeinde in der Stadt wirft, präsentiert.

Die jüdischen Friedhöfe in Wien zählen zu den letzten noch erhaltenen kulturtopografischen Zeugnissen der über achthundertjährigen jüdischen Geschichte in Wien.

Ihr wechselhafter Stellenwert in gesellschaftspolitischen Diskursen, ihre zeitweisen Zerstörungen vermitteln einen Einblick in historische und zeitgenössische Verständnisse von Kultur, Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Diese urbanen Räume sind materielle Archive der jüdischen Geschichte, die über 100.000 erhaltenen Ruhestätten einzigartige Artefakte jüdischen Lebens. Mittels der Inschriften konstituieren sie Quellen enormen Werts.

Restaurierung

Der älteste erhaltene jüdische Friedhof liegt in der Seegasse im neunten Bezirk. Bei Sanierungsarbeiten wurden dort vor einigen Jahren 20 Grabsteine und einige Fragmente entdeckt. Die Steine wurden 1943 von jüdischen Gemeindemitgliedern in der Erde vergraben, um sie vor der Zerstörung durch die Nazis zu retten. Positiv zu vermerken gilt, dass sich die Stadt Wien heute der traurigen Vergangenheit stellt und sich der Restaurierung des Friedhofes und der Gräber angenommen hat.

Der jüdische Einfluss in Bezug auf das kulturelle Erbe Österreichs ist enorm. Schmerzlich wurde dies nach 1945 sichtbar, als ein Großteil der Intelligenzija des Landes durch Vertreibung und Ermordung fehlte.

Corbetts Conclusio: "Nun, 75 Jahre nach Ende des letzten Weltkriegs und der NS-Herrschaft in Europa, schreiben wir – die nachkommende Welt – keine Laudatio für die jüdische Geschichte Wiens, wenngleich wir stets der Ermordeten gedenken. (...) Doch eines scheint klar: Diese Wiener G’schicht hat noch kein Ende genommen. Österreich ringt immer noch mit seiner Geschichte von Faschismus, Krieg und Genozid. (...) Zuwanderung und Diversifizierung und Wandel wie auch Ausgrenzung, Abschottung und Verfolgung sind alles Themen, die sich reichlich in den Erinnerungskanon der jüdischen Friedhöfe eingemeißelt haben. Wie kein anderer Ort bekunden sie heute noch die Erinnerung, aus der wir noch reichlich schöpfen können, hier: an den Grabstätten der Väter." Wider das Vergessen. Wichtig für heute, wichtig für die Zukunft. (Gregor Auenhammer, 24.2.2021)