Simon Deckert hat in seinen ersten Roman Märchenelemente eingewoben: "Siebenmeilenstiefel".

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Erwachsene Menschen sind nicht zwangsläufig lebenstauglicher, nur weil sie mehr Jährchen auf dem Buckel haben. Manchmal muss gar der Nachwuchs die Verantwortung übernehmen. So auch Andrea im Debütroman des in der Schweiz lebenden, aus einer österreichischen Familie stammenden Autors Simon Deckert. Siebenmeilenstiefel ist eine Coming-of-age-Erzählung und unterhält seinem Titel entsprechend auch eine märchenhafte Ebene, in der Feen einem gegenübersitzen und ein fliegender Drache zum Bezugspunkt wird.

Auf das Echsentier ist irgendwie Verlass. Es wird nach der Tuchfühlung mit einer Kirchenturmspitze eine Schuppe verlieren, die zu Boden driftet und in der Hand des Teenagers Michael zum Plektron und Utensil für den Traum vom Musiker wird. Michael und seine ältere Schwester Andrea treten die Flucht aus dem Elternhaus an, um sich für die Zukunft zu befreien.

Ideale Fluchtadresse

Die Mutter hat die Familie bereits vor Jahren verlassen, und der alkoholkranke Vater ist mit sich selbst befasst beziehungsweise mit seiner eigenen Schwägerin. Also weg hier, aus Vorarlberg. Sie schaffen es bis Basel – im Rahmen der bequemen Möglichkeiten ist das ein Kompromiss und doch eine Fremde, in der das Geschwisterpaar abtauchen kann. Sie wohnen bei Tante Ilma auf dem Dachboden, einer idealen Fluchtadresse, weil die selbst etwas eigenbrötlerische Frau die Kinder machen lässt. Andrea erfindet sich alternative Ichs, auch ihr neuer Freund hat wechselweise zwei Namen, und Michael heißt auch Miko.

Siebenmeilenstiefel ist im besten Sinn ein seltsames Buch. Es erzählt Alltäglichkeit mit rätselhaften und märchenhaften Einschüben. Der Zustand des Beschriebenen ist nicht fixiert. Ist es Fantasie, Realität, oder ist es nur ein Traum, was sich gerade abgespielt hat? Das bleibt stets offen. Der Autor springt zwischen den Zeiten und Erzählperspektiven hin und her und schiebt Wirklichkeitsebenen ineinander.

Adoleszenz-Selbstmitleid

Manchmal sucht man für den fragwürdigen Fortgang einer Handlung, die sich seitenlang behauptet, scheinbar vergeblich nach Erklärungen. Deckerts Debüt lässt sich in nichts hineinzwängen. Aber wäre das Buch ein Film, dann sähe man hier den thailändischen Geisterfilmer Apichatpong Weerasethakul am Werk.

Jeder junge Mensch muss bei dieser Lektüre Trost finden. Der Roman hat nebenbei auch die gewissen tiefschürfenden Adoleszenz-Hämmer auf Lager, Sätze wie "Mein Leben ist ein endloser, zugefrorener Fluss im Nebel, auf dem ich Schlittschuh laufen kann, bis ich tot umfalle". Ohne Selbstmitleid kommt eben niemand aus. (Margarete Affenzeller, 25.2.2021)