Rund ein Jahr nach dem Beginn der politischen Reaktionen auf die Verbreitung des aus China stammenden Coronavirus in Europa werden die Debatten über die Zulässigkeit und Rechtfertigung der verschiedenen gesetzten Maßnahmen schärfer. Die Rufe nach Lockerungen und Aufhebungen der Einschränkungen und einer Rückkehr zu den Grund- und Freiheitsrechten werden lauter: Mit einer fortschreitenden Immunisierung durch die Impfung der Risikogruppen einerseits und der ebenfalls großen Zahl jener, die durch eine vergangene Infektion Immunität in Form von Antikörpern oder T-Zellen aufweisen, seien die Maßnahmen überschießend und würden im Gegenteil auf lange Sicht mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen.

Doch auch die Rufe jener, die nach der Fortsetzung der Lockdown-Politik verlangen, werden nun wieder lauter. Vor allem ihnen wurde von den Regierungen vor einem Jahr das Gehör geschenkt: Im Februar 2020 war kaum abschätzbar, welche Herausforderungen das neue Virus für die Gesundheitssysteme der Staaten bedeuten würde. Hektisch wurden Expertengremien zusammengestellt, die eine Grundlage liefern sollten, wie die getroffenen Maßnahmen untermauert und an die Bevölkerung transportiert werden sollten. So auch in Deutschland, wo Innenminister Horst Seehofer sich im März um die weitere Entwicklung sorgte, insbesondere wenn zu Ostern im April Maßnahmen wieder zurückgenommen werden sollten. Er wies seinen Staatssekretär Markus Kerber an, einen internen "Corona-Expertenrat" zusammenzustellen. Innerhalb von vier Tagen erarbeitete diese Gruppe ein Strategiepapier mit dem Titel "Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen", berichtete die "Welt am Sonntag".

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Innenminister Horst Seehofer am 19. März des Vorjahrs bei einer Pressekonferenz.
Foto: Reuters/Hilse

Kerber hatte die Forscher zu der Fabrikation eines Modells aufgefordert, mit dem "Maßnahmen präventiver und repressiver Natur" durchgeführt werden können – und die Expertenrunde lieferte genau das. Das als geheim deklarierte Schriftstück malte ein "Worst-Case-Szenario" an die Wand, bei dem alleine in Deutschland mehr als eine Million Menschen sterben würden, wenn das normale Leben der Bürger nicht durch drastische Einschnitte geändert würde. Die Kernbotschaften des Papiers wurden in der Folge verschiedenen Medien zur Verbreitung zugespielt.

Germanist für Corona-Strategie verantwortlich

Zu dem Expertenrat gehörte auch der Chef des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler. Doch nicht nur Fachleute mit Expertise in Gesundheitsthemen und Virologie gehörten zu dem Gremium: Experten aus den Bereichen Volkswirtschaft, Betriebswirtschaft, Soziologie, Ökonomie und Politologie tummelten sich in dem Rat. Mit dabei war auch der Germanist Otto Kölbl – der 52-jährige Österreicher erfüllte bei der Erstellung des Strategiepapiers jedoch keine Lektoratsaufgaben, wie man vielleicht meinen möchte, er ist im Gegenteil Hauptautor.

Markus Kerber stellte ein Expertengremium für den Umgang mit Fragen zu Corona zusammen. Mit dabei: Germanist und Mao-Fan Otto Kölbl.
Foto: imago images/Metodi Popow

Der Doktorand der schweizerischen Universität Lausanne hat damit maßgeblich den scharfen Kurs der deutschen Regierung vorgegeben, doch aufgrund welcher Expertise? Kölbl studierte in Lausanne Germanistik, Anglistik und Geschichte und unterrichtete seinen eigenen Angaben zufolge an der zentralchinesischen North-Western Polytechnical University in Xi'an. Seit 2007 forscht er über "sozioökonomische Entwicklung in China sowie über deren Darstellung in den westlichen Medien" – sein Dissertationsprojekt. Neben der Doktorandentätigkeit arbeitet er im Ausmaß von dreißig Prozent als extern finanzierter Prüfer der Goethe-Sprachprüfungen für Deutsch an der Universität Lausanne.

"Von Wuhan lernen"

Anfang März 2020 jedoch publizierte Kölbl gemeinsam mit dem Bonner Politologen Maximilian Mayer das hobbymäßig in der Freizeit erstellte Paper "Von Wuhan lernen – Es gibt keine Alternative zur Eindämmung von Covid-19" ("Learning from Wuhan — there is no Alternative to the Containment of COVID-19"). Der Aufsatz stellt mehr ein politisches Pamphlet als eine wissenschaftliche Studie dar und propagiert autoritäre chinesische Methoden im Vorgehen gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Die Autoren bewarben ihr Werk bei Vertretern der deutschen und der österreichischen Regierung und schickten es auch an epidemiologische Institute in der Schweiz. Durch diese Verbreitung erfuhr auch die Universität Lausanne von dem Machwerk und forderte Kölbl auf, seine Universitäts-E-Mail-Adresse nicht mehr für seine Privatprojekte zu verwenden.

"Enorm wichtige Impulse"

Doch mittlerweile klopfte das deutsche Innenministerium bei Mayer und Kölbl an, um sie in Kerbers Corona-Tafelrunde aufzunehmen. Die offizielle Universitätsadresse war nun offensichtlich von nicht zu unterschätzender Relevanz für Kölbls Glaubwürdigkeit. Er setzte den Staatssekretär darauf an, seine Tätigkeit für die deutsche Regierung zu bestätigen, und dieser wandte sich direkt an die Universität Lausanne. Nicht einmal eine Woche nach der Gründung des Expertengremiums schrieb Kerber in einer Mail, dass Kölbl "durch seine Mitarbeit bisher schon enorm wichtige Impulse setzen" konnte. "Ich wäre Ihnen allen sehr verbunden, wenn Herr Kölbl auch weiterhin mit seinen wissenschaftlichen Erfahrungen einen Beitrag leisten dürfte", schrieb der Staatssekretär weiter.

Ungläubiger Dekan

Der Dekan der Universität Lausanne, der sich über die mangelnde gesundheitspolitische Qualifikation seines Sprachprüfers im Klaren war, hielt die E-Mail des deutschen Staatssekretärs für eine Fälschung. "Als Anlage erhalten Sie eine E-Mail, die wir vermeintlich von Ihnen erhalten haben. Wir halten diese Nachricht nicht für glaubhaft und bitten Sie daher um Bestätigung. Wir erlauben uns, Ihnen mitzuteilen, dass die politischen Aktivitäten des betroffenen Kollegen, Herrn O. Kölbl, in keinerlei Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als zu 30 % beschäftigter, extern finanzierter Prüfer der Goethe-Sprachprüfungen für Deutsch an der Section d'allemand der Universität Lausanne stehen", schrieb Dekan Dave Lüthi an Kerber.

"Arroganz der etablierten Professorenschaft"

Anstatt stutzig zu werden, leitete Kerber Mayer – der Kölbl in das Gremium gebracht hatte – die Mail des Dekans weiter: "Wie soll ich damit umgehen?", schrieb er. Dieser antwortete: "Einfach bestätigen, dass die E-Mail von Ihnen kommt. Die spinnen ja völlig. Typische Arroganz der etablierten Professorenschaft. Wie Otto Kölbl beschäftigt ist, hat mit seiner wissenschaftlichen Qualifikation und brillanten Analysefähigkeit rein gar nichts zu tun."

Zu diesem Zeitpunkt war das Strategiepapier, das Seehofer die Munition für ein politisches Spiel mit der Angst liefern sollte, bereits fertiggestellt, und Kerber kamen offenbar keine Zweifel an der Qualifikation Kölbls – oder aber er vertraute auf seine Kenntnisse der chinesischen Repressionsmethoden. Schließlich wissen die chinesischen Behörden bestens darüber Bescheid, wie autoritäre Maßnahmen gegen Millionen Menschen umzusetzen sind.

Ersticken als Urangst und Schuldkomplexe

Kölbl durfte sich in dem als vertraulich deklarierten Papier jedenfalls austoben. "Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden. (...) Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft Kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst", steht in dem Schriftsatz ebenso wie folgende Passagen: "Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen … Wenn sie dann ihre Eltern anstecken und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, schuld daran zu sein, weil sie z. B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann." Der "Welt am Sonntag" zufolge bestätigte Kölbl, dass all diese Formulierungen von ihm stammen. Dieser rechtfertigte sich: "Ich bin auch der Meinung, dass alles, was dort steht, korrekt ist. Es ist einfach die Realität, in Wuhan ist genau das passiert."

Lob für Verbrechen Maos

Kerber hätte sich über die politischen Positionen Kölbls ein Bild machen können, denn der Germanist ist auf Twitter aktiv, betreibt auch einen Blog, auf dem er sich auch zu China-Themen äußert und unter anderem Pekings Tibet-Politik lobt, und kritisiert in Gastkommentaren in chinesischen Medien die westliche Medienlandschaft.

Erst vergangene Woche lobte Kölbl in einer Twitter-Diskussion hitzig die Politik des chinesischen Diktators Mao. Kölbl zufolge ging es mit China aufwärts, weil Mao die "Intellektuellen Klo putzen" geschickt hatte: "Mao ist an die Macht gekommen in einem Land, in dem die hochkultivierte Intellektuellenelite vorher uneingeschränkt herrschte. Dann schickte Mao die Intellektuellen Klo putzen, und das Land entwickelte sich, während es vorher der 'Kranke Mann Asiens' war." Er beklagt weiters die "Gehirnwäsche von unseren akademischen China-Experten und unseren Medien über China, spezifisch über die Zeit unter Mao".

Im August ließ er ein fragwürdiges Verhältnis zur westlichen Meinungs- und Pressefreiheit durchklingen, indem er nach "Werkzeugen, um Journalisten zur Rechenschaft ziehen zu können", rief, weil die renommierte britische "Times" über mögliche Verbindungen des Coronavirus zu einem Labor in Wuhan berichtet hatte.

All dieses radikale, undemokratische und autoritäre Gedankengut floss auch in das Papier für das Innenministerium ein. Dennoch – oder vielleicht auch gerade deswegen – zeigte sich Kerber in einer E-Mail an die Autoren vom Resultat der Auftragsarbeit begeistert: Das von der Expertengruppe verfasste Strategiepapier "wird in seiner hohen Qualität und Umsicht nun den Weg ins Krisenkabinett der Bundesregierung finden", schrieb er. Trotzdem wurde der Expertenrat einige Zeit später wieder aufgelöst. Mayer tritt derzeit als einer der Protagonisten der "No Covid"-Initiative auf, die autoritäre Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie fordert. Kölbl ist weiterhin in Lausanne beschäftigt.

Der Einzige mit Plan

Auf seinem Twitter-Account bezeichnet sich der Germanist als "Forscher an der Universität Lausanne zu Gesundheitsthemen (derzeit Covid-19)" und als Mitglied der "Covid-19-Taskforce des deutschen Innenministeriums (derzeit inaktiv)". An Selbstvertrauen bezüglich seiner virologischen Expertise mangelt es Kölbl also offensichtlich nicht. Darauf lässt auch seine Reaktion auf Kritik an seiner Teilhabe an der Erstellung des Corona-Positionspapiers des Innenministeriums im vergangenen August auf Twitter schließen. "Vielleicht ist es ein Skandal, dass ich in diese Taskforce kam, weil ich Anfang März als Einziger einen Plan zum Eindämmen des Virus zu bieten hatte, als alle (!) westlichen Experten nur von Herdenimmunität schwärmten", schrieb er und verlinkte auf sein Wuhan-Paper.

Das eine Strategie der Angst propagierende Papier von Seehofers Expertenrat prägt jedenfalls noch bis heute die Corona-Politik der deutschen Regierung wesentlich mit – und damit auch die Politik vieler anderer Regierungen in Europa, die stets einen Blick auf den Kurs in Berlin haben. (Michael Vosatka, 26.2.2021)