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"Die Stadt heißt Frankfurt", schreibt Maier in "Die Städte": "Die Wohnung, in der ich in diesen Jahren lebe, liegt mit dem Auto 32 Kilometer entfernt von dem Haus in Friedberg, in dem ich aufgewachsen bin."

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Aschermittwoch, Nachmittag. Karnevalstreiben gab es dieses Jahr auch in Frankfurt am Main nicht. Da kann es nicht ausbleiben, dass die Eröffnungsfrage nach Andreas Maiers derzeitigem Befinden durchwachsen ausfällt. Kein Fasching, keine offenen Gast- und Apfelweinwirtschaften, Kontaktverbot. "Uns geht’s ja allen gleich", sagt Maier.

In den letzten Monaten sei er so daneben gewesen, dass er zweimal gestürzt sei, einmal die Rolltreppe herunter, einmal im Rennen über einen Gehsteig. Das hat Spuren hinterlassen, nicht bloß auf seiner Stirn, er klingt noch immer entsetzt.

Und als eine Art Warnung oder Entschuldigung für die kommenden eineinhalb Stunden, schickt er voraus, dass er müde und langsam geworden sei, und wiederholt es gleich noch einmal, so als bestünde Gefahr, dass das am anderen Ende der Leitung nicht angekommen ist.

Analoges Fossil

"Ohne Menschen geht es nicht", sagt er. Für das neue Buch sind bislang gerade einmal drei Lesungen angesagt: "Das ist absoluter Weltrekord", aber sie sollen wenigstens vor Ort stattfinden. "Wie, Zoom?", das fragt er ungläubig auf die Feststellung hin, dass Lesungen auch online stattfinden: "Das kenne ich gar nicht. Und ich denke, mein Computer auch nicht." Maier (53) ist ein analoges Fossil.

Später im Gespräch wird er einmal seine Rolle ironisch als "Bote aus einer alten Welt" festlegen. Noch bevor dieses Gespräch über sein neues Buch richtig begonnen hat, stellt er fest: "Wenn diese ganze gesellschaftliche Aufregung vorbei ist, dann werden wir auf entgegengesetzte Weise unaufgeregt akzeptieren, dass wir in einer neuen Normalität angekommen sind. Es ist ein Paradigmenwechsel."

Die Städte heißt sein neues Werk, es ist das achte Buch seines autofiktionalen Romanzyklus Ortsumgehung, eines Projekts, das der Autor aus Friedberg in der Wetterau, er entstammt einer Steinmetzdynastie, 2010 mit Das Zimmer gestartet hat. Es folgten: Das Haus (2011), Die Straße (2013), Der Ort (2015), Der Kreis (2016), Die Universität (2018), Die Familie (2019) und jetzt, 2021, Die Städte. "Die Städte kamen sich näher", lautet der erste Satz.

Andreas Maier beschreibt in kaum miteinander verbundenen, aber chronologischen Kapiteln eine Zeitspanne der Erinnerung, die von den Siebzigerjahren bis zum Anfang der 2000er-Jahre reicht: eine Autoreise als Kind mit den Eltern nach Brixen in Südtirol, eine Flugreise mit den Eltern als Dreizehnjähriger nach Athen, ein sommerlicher Rucksacktrip mit einem Freund nach Biarritz, ein Aufenthalt als junger Mann im Piemont, die Schilderung einer Pauschaltourismusreise einer Freundin nach Bangkok, die Studienzeit in Frankfurt, am Ende steht eine Fahrt nach Weimar.

Mobilitätsbesessene Gesellschaft

Maier zeichnet anhand von Städten, Landschaften und Menschen verschiedene, sicher auch autobiografische Reisen und das Bild einer immer mobilitätsbesesseneren Gesellschaft nach, deren Folgeerscheinungen wir im Moment ausbaden: Maiers Rückbesinnung auf die Vergangenheit verhandelt immer auch die Gegenwart, vielleicht ohne dass der Autor das möchte.

Im April vergangenen Jahres, als Raimund Fellinger, Maiers legendärer Suhrkamp-Lektor verstorben ist, stand noch wenig vom Manuskript, erzählt der Autor, dann erst nahm alles Fahrt auf. Die Städte, das Buch, in dem es um das Sich-in-der-Welt-Bewegen geht, entstand also in einer Zeit, in der fast die ganze Welt durch Reise- und Ausgangsbeschränkungen stillstand. "Koinzidenz", sagt Maier.

Eine notwendige Koinzidenz, denn sein Projekt Ortsumgehung, das hat der Autor über die Jahre schon in vielen Interviews erklärt, beschäftigt sich vom ersten Buch an "mit der Groteske von Verkehrsauswüchsen und dem Zubetonieren von Landschaften und auch der Umstrukturierung von menschlichen Psychen, die sich in diesen Landschaften bewegen und glauben, immer mehr reisen zu müssen".

Sein Buch Die Städte zeugt davon, dass Maier als junger Mensch zwar viel gereist ist, aber später von den anderen Reisenden "auf der Überholspur überholt wurde", wie er das formuliert.


Als der Pauschaltourismus während seiner Studienzeit heftig losging, hat er die Reisebewegungen nur noch von außen beobachtet: "Es kam mir nie vor, als hätte ich weniger erlebt." Andreas Maier hat bis heute Europa nie verlassen. "Ich fliege nicht", sagt er am Telefon. 2012 wurde ihm ein Stipendium in New York angeboten. Er hat es abgesagt.

Dann bekam er eine Einladung nach London. Drei Monate in Venedig hatten ihm vorher wieder klargemacht, wie heftig er sich in Städte verlieben kann, und Maier erinnert sich, wie hart es war, nach einem Jahr in der Villa Massimo von Rom wieder loszukommen. Da ließ er das mit London lieber bleiben.

Das letzte Mal, dass er ohne äußeren Anlass, also als Tourist, in eine ihm unbekannte Stadt fuhr, das war 1995 nach Siena und Mantua. Vor 26 Jahren, damals hatte er noch ein Auto. Auf die Frage, in welche Stadt er verreisen wird, wenn es wieder möglich ist, sagt er ohne Zögern: "Düsseldorf, Köln, Bamberg, München, Salzburg, Wien." Es ist ihm ernst.

Ein Bote aus der alten Welt: Andreas Maier (53).
Foto: Imago / Hoffmann

Vielleicht ist Andreas Maier nicht nur ein Bote aus der alten Welt, sondern auch einer aus einer neuen, in der weniger fern zu reisen wieder mehr angesagt sein wird. Er könnte sofort auch aufzählen, welche Gastwirtschaften er in den jeweiligen Städten besuchen würde.

Aber bevor er verreisen würde, würde er in Frankfurt, in dessen Umgebung Maier nach Jahren in Hamburg wieder lebt, zum "Schorsch" gehen. In keiner von Maiers Kolumnen "Neulich", die regelmäßig in der österreichischen Literaturzeitschrift Volltext erscheinen, lässt der Autor einen Zweifel daran, wie wichtig ihm Apfelweinwirtschaften und Kneipen sind.

Marcel und Andreas

Als die schwedische Schülerin Greta Thunberg bekannt wurde und mit ihr die Fridays-for-Future-Bewegung, die für mehr Klimaschutz und gegen das Fliegen protestierte, dachte der Autor zunächst "autsch", einfach weil er nicht den Eindruck erwecken will, er würde sich auf einen Zeitgeist draufsetzen.

Wer mit Maiers Schaffen vertraut ist, vermutet das ohnehin nicht. Man möchte ihn lieber fragen, ob er "auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ist. "Nein", antwortet Maier, "aber wir kommen jetzt offenbar aus einer verlorenen Zeit." Der Vergleich mit Proust ist naheliegend, ein klassisches Vorbild.

So wie Marcel Proust von seinem Protagonisten als "Marcel" schreibt, schreibt Maier von "Andreas" und das seit Band eins seiner Ortsumgehung. Beim Lesen weicht das natürlich die Grenze zwischen Biografie und Fiktion noch einmal weiter auf. Autofiktion sei ein Modewort geworden, findet Maier.

Er hat recht, siehe Karl Ove Knausgård, Tomas Espedal, Annie Ernaux etc. Aber schon seine Frankfurter Poetik-Vorlesung im Jahr 2006 verhandelte dieses literarische Ich. Und als Leserin fragt man sich natürlich, ob es die Tante aus Frankfurt, die in der Badewanne ertrunken ist, tatsächlich gab, und vieles andere auch. "Die gab’s!", sagt Maier, dann kommt nicht mehr viel. Kurz holt er noch aus, es hätte Gerüchte gegeben, ob es mit rechten Dingen zuging: "Aber das alles gehört nicht ins Buch!"

Kein klassischer Plot

Warum etwas im Buch landet oder nicht, kann der Autor nicht genau fassen. Fest steht, in keinem Buch dieser Reihe gibt es einen klassischen Plot: "Ich bin kein Mensch, der etwas auserzählt, der Verbindungen zwischen den einzelnen Szenen schafft", sagt Maier. Dennoch entsteht eine dichte Atmosphäre um diese Figur Andreas herum. Maier komponiert seine Bücher, da ist nichts Zufälliges, alles bekommt seinen Sinn, auch wenn es zunächst erratisch dasteht.

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"Die Stadt wimmelte von Touristen, Busse fuhren an mir vorbei, Gruppen stiegen aus, überall Mützen, Sonnenbrillen, Fotoapparate", so beginnt das Weimar-Kapitel. Zu sehen: das Goethe-Haus, menschenleer.
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Auf die Frage, ob früher alles besser war, reagiert Maier eindeutig. Von einer Laudatio temporis acti, einem Lob der vergangenen Zeit, hält der Altphilologe überhaupt nichts. Dennoch herrscht bei ihm Vergangenheit.

"Dann betrete ich das in den damaligen Jahren unseres Lebens wichtigste Gebäude auf der Welt, Gräfstraße 74–76", schreibt Maier über seine Frankfurter Studienzeit in Die Städte. Er hat in diesem Gebäude in Frankfurt-Bockenheim Latein und Altgriechisch gelernt und studiert, was sein Leben nachhaltig verändert hat.

Zeitenwenden

Die Frau seines verstorbenen Lektors war in diesem Gebäude Institutsbüroleiterin der Germanistik. Maier kommt auch heute immer einmal wieder vorbei. Das Gebäude wurde inzwischen zu einem "Edelstudentenheim" umgebaut, mit angeblich horrenden Mietpreisen.

Es ist auch die Gegend, in der Peter Kurzeck gelebt hat, wo dessen Romanzyklus Das alte Jahrhundert spielt. In Gedenken an Kurzeck trinkt Maier immer einen Jägermeister, wenn er nach Frankfurt-Bockenheim kommt. Dass Frankfurt am Main seine große Liebe ist, spürt man in jedem Wort.

Immer wieder kreist Maier um das neue Jetzt: "Ich komme ab jetzt aus einer anderen Welt, und ich vermisse diese andere Welt." Er fühlt sich einigermaßen überrollt. Solche Paradigmenwechsel, wie wir sie jetzt erleben, gab es aber schon immer, ist der Schriftsteller überzeugt.

Es sind Zeitenwenden, für seine Generation die erste. Maier: "Intelligente Leute wussten schon vor über zehn, fünfzehn Jahren, was kommen wird. Alles, was jetzt passiert, ist schon lange latent."

Liest du immer?

Überfahren fühlt sich auch sein Protagonist aus Die Städte. Der Anfang zwanzigjährige Andreas will sich im italienischen Oulx, das man übrigens so ausspricht, wie man es schreibt, umbringen. Selten sind Selbstmordabsichten so vergnüglich beschrieben worden.

Frage an den Autor: Was hält Andreas davon ab? "Wahrscheinlich reizt er sein Pathos nur bis an die Grenze aus", sagt Maier, will aber seinem jungen fiktionalen Ich die Ernsthaftigkeit nicht nehmen. Vielleicht ist es auch die Pizzeriakellnerin, die den jugendlichen Antihelden, der Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser als Lektüre immer bei sich trägt, aus der Bahn wirft. Wir lesen in Die Städte: "Und da steht dieses schöne, für mich unerreichbare Wesen, die Frau aus dem kleinen Ort, vor mir und fragt: Leggi sempre?"

Liest der Autor Andreas Maier auch immer? Nein, wenn er schreibt, dann nicht. Seit Jahresbeginn liest er ausschließlich Sigmund Freud, Schriften teilweise noch vor dem Ersten Weltkrieg, und weist daraufhin, wie oft sich die Welt seit damals verändert hat und was es für gewaltige Zäsuren gab.

Alles endet 2009

Insofern sei es vielleicht normal, jetzt eine Zeit zu erleben, mit der man aus der scheinbaren Geborgenheit herausfällt, in der seine Generation in der Bundesrepublik gelebt habe. "Auch mein Schreiben findet ab jetzt notgedrungen in der alten Welt statt", so Maier. Das liegt daran, dass der fiktionale Rahmen der Ortsumgehung festgelegt ist: Sie wird im Jahr 2009 enden. Zwölf Jahre vor unserer Zeit. Es ist immer der damals 41-jährige Andreas, der diese Ortsumgehung schreibt: "Es ist eine verkapselte Zeit."

Und es ist auch ein strenges Formprinzip, dass am Ende eines jeden Buches der Protagonist wieder einmal älter geworden ist. Zwar beginnen einige Bände immer wieder in der Kindheit, aber hinten raus ist dieser Andreas dann älter als in allen vorangegangenen Büchern geworden. Dieses Mal ist es speziell: Am Ende von Die Städte kommt der junge Andreas bei Andreas Maier, dem Schriftsteller, der Autor bei sich selbst, an: "Dann begann die Lesung", so lautet der letzte Satz.

Aber das Schlusskapitel führt Andreas nicht nur nach Weimar zu seiner ersten Lesung, sondern der Protagonist landet vorher noch in einem Neonazi-Aufmarsch auf dem Frauenplan und schließt damit auch an die undurchsichtigen Kapitel seiner eigenen Familiengeschichte während des Krieges und danach an.

Siehe Maiers Beschreibung Die Familie aus 2019 als romantaugliche Keimzelle der Gesellschaft: "Meine Familie ist eine Familie, die immer Grabsteine gemacht hat. Auch ihren eigenen", lautet das Zitat auf dem Buchumschlag.

Auch Thomas Manns Die Buddenbrooks spielt in der Ortsumgehung immer wieder eine Rolle. Andreas, als Autor und als Protagonist seiner Bücher, zählt sich eindeutig zur Hanno-Buddenbrook-Generation: "In einem Dreigenerationenschritt von Aufbau, Stagnation und Abbau bin ich eindeutig die Abbaugeneration."

Was wird hier umgangen?

Was will er als Schriftsteller mit seiner Ortsumgehung eigentlich umgehen? "Unser Yorkshire-Terrier", erzählt der Hesse nach einer kurzen Pause, "ist am letzten Tag vor seinem Tod noch einmal um mein seltsam riesiges Elternhaus herumgegangen. Er hat das schon ein, zwei Jahre nicht mehr gemacht, aber an dem Tag ist er da raus und hat das alles noch einmal umgangen."

So eine Szene ist typisch für Maier, sie könnte in einem seiner Bücher stehen, gleichermaßen traurig und schön. "Was aber sonst noch umgangen wird, dafür habe ich noch drei Bücher Zeit", Maier zählt sie gleich auf: "Die Heimat", "Der Teufel" und "Der liebe Gott".

Es ist nämlich so: In einer Herbstnacht 2008 hat Andreas Maier die elf Buchtitel seines Ortsumgehung-Projekts in einer Bierlaune auf ein Stück Papier geschrieben, und er hält sich seither sklavisch daran. "Die Heimat", motzt Maier, "das ist auch schon wieder so ein grauenhafter Titel." Aber diese Titel ändern? Niemals. Das geht nicht.

Elf Teile und 17 Jahre

Im Jahr 2025 wird er frühestens fertig sein mit der Vollendung der elf Teile. Wobei sich beim Wort "Teile" Widerstand regt. Der Autor betont, dass die einzelnen Bücher ganz für sich allein stehen, ein Buch das andere nicht brauche, um gelesen werden zu können. "Hamsterrad" nennt er das Schreibprojekt, das ihm schon viel Freiheit und Kreativität geraubt hat, aber auch einen Rahmen gibt.

"Es ist jetzt mehr denn je ein Stabilitätsfaktor für mich", das hat der Schriftsteller vor zwölf Jahren, als er begann, Das Zimmer im Sommer 2009 im Latium zu schreiben, nicht geahnt. Andreas Maier, fast ungläubig: "Am Ende werden es 17 Jahre meines Lebens gewesen sein." (Mia Eidlhuber, 27.2.2021)