Clubhouse als klassische Agora im digitalen Zeitalter: Wer früh einsteigt, macht sich auch zur Testperson.

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Hundert Menschen sprechen an einem Mittwoch im Februar am frühen Morgen über Taiwan. 76 von ihnen hören nur zu, 24 aber sind "auf der Bühne", wie es so schön heißt in der digitalen Anwendung, in der das Gespräch stattfindet: Sie dürfen sich äußern, wenn sie dazu anmoderiert werden. Dazwischenquatschen gehört sich nicht und kommt auch selten vor.

Clubhouse, ein relativ neues soziales Netzwerk, in dem man nicht schreibt und nicht postet, sondern in dem man redet oder zuhört, "hostet" dieses Gespräch über Taiwan. Einige Wochen ist es nun her, dass die App auch im deutschsprachigen Raum zunehmend Verbreitung zu finden begann.

Derzeit ist ein wenig unklar, ob der Hype nur kurzzeitig war oder ob sich da eine neue Verknüpfung in unserem ohnehin schon stark ausgelasteten digital-sozialen Leben formiert. Dass diese Fragen von Belang sind, ist angesichts der Übermacht, die Facebook, Instagram, Youtube oder Tiktok im weltweiten Informationsgewebe gewonnen haben, zweifellos relevant.

Distanzen aufheben

Der Taiwan-Raum mag als erstes Beispiel dafür dienen, was Clubhouse unter anderem kann. Die 100 Leute (eine Viertelstunde später sind es nur noch 78) sprechen auf Englisch über ein Land, von dem es heißt, es habe die Pandemie mustergültig eingehegt. Taiwan steht unter Druck durch den riesigen Nachbarn, die Volksrepublik China. Wie bei fast allen Staaten gibt es neben der einheimischen Bevölkerung eine große Expat-Gemeinde.

Der Raum auf Clubhouse hebt die Distanzen auf. Natürlich könnte man vergleichbare Inhalte auch bei einem digitalen Radiosender finden, der auf Englisch aus oder über Taiwan sendet. Doch auf Clubhouse befinden sich die Stimmen hinter kleinen Icons, auf denen sie mit Foto ausgewiesen sind, und die Profile führen in aller Regel zu Twitter- oder Instagram-Accounts, auf denen sich die "vollständige" Person zu erkennen gibt. Clubhouse ist also tatsächlich ein globales Netzwerk. Allerdings lassen sich die Dimensionen nicht so leicht ermessen.

Einladung als Privileg oder Zumutung

Das hat damit zu tun, dass man nur auf Einladung hineinkommt und dass die App, die natürlich wieder einmal aus Kalifornien kommt, bisher nur auf iOS läuft, also in der Apple-Welt.

Zwar kann man als neuer Nutzer inzwischen sieben neue Teilnehmer dazuholen, es scheint aber zumindest in Europa doch ein gewisses Zögern zu geben, ob diese Einladung als ein Privileg oder eine Zumutung zu sehen ist. Das hat nicht zuletzt mit gravierenden Datenschutzbedenken zu tun. Wer früh einsteigt, in diesem Fall offiziell noch in der Beta-Phase, macht sich auch zur Testperson.

Ein anderer Raum an demselben Morgen macht die Prämissen von Clubhouse wesentlich deutlicher: In "swag money billionaires only" geht es ganz direkt um Erfolg auf Instagram, eine Frau mit zwei Millionen Followern auf Clubhouse versucht notdürftig, diesen Erfolg zu erklären: "Ich war halt einfach früh da."

Noch einmal einen Raum weiter sitzen ein paar Dutzend Leute aus offensichtlich wirklich aller Welt beisammen und lesen einander auf Französisch Der Fremde von Camus vor, zur Verbesserung der Aussprache. Zu einer gewissen Berühmtheit haben es bereits die diversen Ruhe- und Schweigeräume gebracht, in denen die App gleich einmal pointiert zweckentfremdet wird.

Leichte Verblüffung

Dass es sich bei Clubhouse wohl eher nicht um eine Eintagsfliege handeln dürfte, kann man aus diesem Effekt erschließen, den man eben auch von Facebook oder Instagram kennt: Eine leichte Verblüffung darüber, mit welch plötzlich auftauchender Selbstverständlichkeit da etwas bedient und abgeschöpft wird, was sich leicht als soziales Grundbedürfnis deuten lässt – gesehen werden, nun auch gehört werden.

In diesem Fall mit der Pointe, dass die Stimme tatsächlich physisch vernehmbar wird. Clubhouse ist so etwas wie Talkradio, aber dezentral. Gesendet wird von überall, die Redebeiträge werden auch nicht, wie bei Sendern mit einer Redaktion, vorher abgefragt, sondern kommen ungefiltert.

Beicht- und Therapiefunktion

Beim Radio oder im Fernsehen ist die Beicht- und Therapiefunktion relativ gut geschützt, wenn es sich um Call-in-Formate wie Domian handelt, wo Menschen anonym von ihren Nöten und Erfahrungen erzählen. In den Nachmittagstalkshows, in denen es mit der Preisgabe von Schicksalen härter zur Sache geht, ist immerhin deutlich erkennbar, dass Menschen hier vorgeführt werden.

Auf Clubhouse ist es die App selbst, die einen geschützten Rahmen suggeriert. Man betritt die Räume ja freiwillig, man gesellt sich unter Menschen, bei denen digitale Vermummung nicht vorgesehen ist.

Und sie erzählen, zum Beispiel in den schnell entstandenen zahlreichen Partnervermittlungs- und Beziehungscoachingräumen, sehr freimütig von sich. Übrigens auch sehr reflektiert: Wer sich für heutige Sprachen der Liebe interessiert, findet reichlich Anhörungsmaterial.

Die queere, fromme Muslima

Das gesellschaftliche Großthema Diversität wird dabei zugleich abgebildet und vorangetrieben. Räume mit muslimischer Moderation lassen alles erkennen von herkömmlichen Vorstellungen ("Es liegt in der Natur der Frau, dass ...") bis zu unlösbaren, aber mit bemerkenswerter Ruhe vorgetragenen Konflikten, wenn eine queere und fromme Muslima ihre Identität offen vertritt, dabei aber zugleich einräumt, dass sie eine spätere Höllenstrafe für sich für wahrscheinlich hält.

In Deutschland war in den vergangenen Tagen die Erinnerung an den Anschlag in Hanau vor einem Jahr eine große Sache und wurde auf vielfache Weise zu einem Auslöser für Diskussionen über Diskriminierung in den offenen Gesellschaften von heute.

Mit diesen Räumen übernimmt Clubhouse die Funktion der klassischen Agora, des Platzes im Zentrum der Stadt, auf dem Sokrates den Moderator für Gespräche gab. Das Beispiel aus dem antiken Athen ist hier auch deswegen durchaus passend, weil der Philosoph sich mit einer Konkurrenz auseinanderzusetzen hatte, die Weisheit für Geld verbreitete.

Die Sophisten haben in Clubhouse von heute eine direkte Entsprechung, denn das zentrale kulturelle Merkmal der App dürfte wohl doch darin bestehen, dass sie bisher vor allem sehr stark jenen Menschen eine Bühne bietet, die man als die Vertreter einer der neuen Ökonomien sehen könnte: eine bunte Mischung aus Selbstvermarktern, Gründerinnen, Agentinnen, Influencern, Podcastern, Netzwerkerinnen.

Sprechakte als riesiger Datenschatz

Für diese Gruppen dürfte es eher kein Problem darstellen, dass mit Clubhouse ein weiterer elementarer Aspekt demokratischen Zusammenlebens in einen kommerziellen Datenzusammenhang geholt wird: Das öffentliche Gespräch mit fremden Menschen findet in einem Rahmen statt, von dem im Übrigen bisher bemerkenswert wenig bekannt ist.

Denn das Geschäftsmodell von Clubhouse ist noch vage, es gibt vorerst keine Werbung, das Unternehmen hat allerdings in kürzester Zeit eine Unmenge von Daten gesammelt. Und es hat mit den jetzt schon gesammelten Sprechakten einen riesigen Schatz, der nicht zuletzt für künftige Biometrisierungen zum Beispiel in Gesundheitsanwendungen von Bedeutung ist.

Denn die Stimme ist nicht minder persönlich als zum Beispiel das Gesicht. Facebook ließ wie zufällig zu Beginn der Pandemie die Kinderfoto-Challenges auftauchen, die dem Unternehmen weiteres enormes Datenmaterial für automatisierte Gesichtserkennungen einbrachten. Nun muss der Marktführer erkennen, dass er zumindest bei einem weiteren relevanten Persönlichkeitsmerkmal Aufholbedarf hat. Facebook wirkt plötzlich taub.

Ein weiteres Puzzlestück

Andererseits hat das Netzwerk bei Clubhouse auch schon einen Fuß in der Tür, denn das eigene Tochterunternehmen Instagram ist für die neue App fast so etwas wie eine Voraussetzung. Man kann auf Clubhouse (bisher) keine Nachrichten schreiben, Kommunikation erfolgt tatsächlich strikt mündlich und in den Räumen. Deswegen wird das Netzwerken vielfach auf Instagram ausgelagert, wo die Message-Funktion ohnehin schon lange zu einem zentralen Kommunikationskanal geworden ist.

So wächst weiter zusammen, was auch von strengen Aufsichtsbehörden kaum mehr zu entflechten ist: Clubhouse zeigt sich mit seinem Audio-Feature als weiteres Puzzlestück in einer umfassenden Einbettung der Kommunikation in amerikanische kommerzielle Strukturen. Die alte Kolonialmacht Europa ist in der digitalen Gegenwart selbst ganz Kolonie. Dazu müsste man direkt einmal einen Raum eröffnen. Aber vielleicht dann doch nicht auf Clubhouse. (Bert Rebhandl, ALBUM, 28.2.2021)