Komplexe literarische Spurensuche: Ljuba Arnautović.

Foto: Zsolnay / Leonhard Hilzensauer

Manche Ausflüge nehmen kein Ende. Da gerät dann auch das anvisierte Ziel aus dem Blick, vom verzehrten Proviant ganz abgesehen. Von einer solch ausfransenden Unternehmung erzählt die in Wien lebende russischstämmige Autorin Ljuba Arnautović in ihrem neuen Roman.

Eigentlich ist, siehe Klappentext, von Beginn an alles klar: In Junischnee geht es wie in ihrem Romandebüt Im Verborgenen (2018) um Arnautovićs zerrissene Familienbande vor dem Panorama eines europäischen Katastrophenjahrhunderts – ohne dass das Buch zum Wälzer anschwillt.

Speziell geht es jetzt um die eigenen Eltern. Arnautović behauptet sich erneut als gewandte, geschichtsbewusste Literatin, die Vergangenheit auf Papier zu bannen weiß. Ihre mit Klarnamen versehenen Charaktere kippen in jedem Moment der Lektüre ins Literarische.

Arnautović spricht von einem "Seiltanz", sich die reale Verwandtschaft "wegzuschreiben", was den unmittelbaren Reiz dieses großen, emphatischen Romans ausmacht. "Wegschreiben" klingt zwar lässig, ist aber Schwerstarbeit hinsichtlich Recherche und Stoffbewältigung und vor allem ein aufwühlender künstlerischer Akt.

Nähe und Distanz

Dabei sind Nähe und Distanz gegenüber den Figuren fein ausbalanciert, Nähe ist immer tastend, markiert durch Fragesätze und Gedankenrede, Distanz nie kühl. Erzählt wird folglich im hautnahen Präsens und auktorial.

Als Titel ist der Begriff Junischnee eine schöne Irritation. Motivisch wird Pappelflaum durch den Roman schneien und auf schicksalhafte Wendungen verweisen. Der zeitlichen Tiefe entspricht auch der räumliche Spagat zwischen Russland und Österreich.

Im Dazwischen liegen Menschliches und Unmenschliches eng beieinander. Der Held von Junischnee ist Karl Arnautović. Sein Heranwachsen ist ungelebte, verdammte Lebenszeit. Aus dem Kind und Jugendlichen Karli sollte ein gebrochener Mann werden.

Gemeinsam mit seinem älteren Bruder Slavko kam er im Unruhejahr 1934 von Wien über Prag ins sowjetische Exil, weil die Mutter als Aktivistin des Schutzbunds nicht mehr sicher war vor den Nazis. Der Vater, Kommunist und Jude, war bereits untergetaucht. Ab 1941 galten die bis dahin willkommenen und gehegten Kinder der Genossen "als zu verhaftende Feinde".

Fortgebracht

Der andere kapitelweise erzählte Strang gehört Nina, ihre und Karls Geschichte werden fortschreitend miteinander verflochten. Dereinst werden sie Eltern sein einer ersten Tochter. Sie bleibt namenlos, es ist Ljuba, die Autorin. Die Frage der Herkunft, die uns fundamental etwas darüber erzählt, warum wir so sind, wie wir sind, grundiert den Text.

Am Schluss wird sich die Autorin als inzwischen Halbwüchsige doch noch als Ich deklarieren: "Wäre ich geworden wie meine Cousinen, oder wäre ich geworden, wie ich bin, hätte man mich nicht fort von hier und nach Österreich gebracht?" "Hier" meint die russische Provinz Kursk, wo Nina Ende der 1920er-Jahre geboren wird.

Ihre Mutter Anastasia sollte noch im Alter für ihre 1954 geborene Enkelin Ljuba von Bedeutung sein. Vorfahren mütterlicherseits vermag Arnautović mit wenigen Strichen zu porträtieren, die Frauen eint alle ein besonderes körperliches Merkmal.

Als Nina Karl im Sommer 1951 im Gulag begegnet, ist dieser "27 Jahre alt und seit acht Jahren einzig mit dem Überleben beschäftigt". Die Sowjetunion ist zu dieser Zeit immer noch ein unvorstellbar großes Straf- und Arbeitslager.

Monströse Grausamkeit

Monstrosität und Grausamkeit einer zynischen, erpresserischen Bürokratie werden kaum deutlich angesprochen. Es geschieht schlicht Unrecht am Menschen. Die abgedruckten Verhörprotokolle Karls zeugen vom fragwürdigen Wahrheitsbegriff eines unmenschlichen Systems.

Auch sein älterer Halbbruder Slavko fiel diesem zum Opfer. Arnautović weiß ihre ausdrucksvolle, klar gesetzte Sprache von herber Schönheit stets zu zügeln. Das enorme, datenexakte Erzählerwissen kann dann aber dazu führen, dass einen Tick zu viel erklärt oder Bekanntes wiederholt wird. Auch bremsen zahlreiche inhaltliche Vorgriffe mitunter die dramaturgische Spannung.

Als Karl 1953 seine Strafe als sogenannter Volksfeind, der er nicht war, verbüßt hat, geht doch ein Ausflug zu Ende. Nach 22 Jahren kehrt er 1956 mit Nina und dem Kind zurück nach Wien zu seiner Mutter Eva, Heldin aus dem Vorgängerroman. Vorab wurden bereits intime Briefe ausgetauscht.

Nina wird ihren Platz dort nicht finden, um die mittlerweile zwei geliebten, hin- und herverpflanzten Kinder kämpfen müssen. Karl sollte erst auf eigenes Betreiben in den Neunzigern rehabilitiert werden. Slavkos Spuren hatten sich längst verloren. Aber nicht in diesem eindringlichen Buch des Bewahrens, das niemanden vergisst. (Senta Wagner, 28.2.2021)