Beim Wiener Westbahnhof griff ein Teenager zwei Obdachlose an – und filmte eine Attacke sogar mit seinem Handy.

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Wien – "Das ist eine große Schweinerei an den Ärmsten der Gesellschaft." Daniela Zwangsleitner, Vorsitzende des Schöffengerichts, macht im Verfahren gegen den 17-jährigen Manuel R. aus ihrem Herzen keine Mördergrube. Dem Teenager wird vorgeworfen, im Sommer beim Wiener Westbahnhof einen unterstandslosen Polen mit einem Schlagring halbtot geprügelt zu haben. R. bekennt sich schuldig, will sich aber alkoholbedingt an nichts mehr erinnern können.

Die Amnesie ist allerdings sehr selektiv. Er habe mit Freunden am Karlsplatz seinen Geburtstag gefeiert und habe erstmals im Leben Alkohol getrunken, behauptet der Angeklagte. Er wisse auch noch, dass er zu Fuß zum Tatort spaziert sei. Dann kommt die Lücke – erst als er im Polizeiwagen saß, setzt die Erinnerung wieder ein.

Schlagring "blöderweise im Rausch eingesteckt"

"Ich weiß, dass etwas war", ist das einzige Zugeständnis an die Fakten. "Woher haben Sie den Schlagring gehabt?", will die Vorsitzende wissen. "Den hat ein Freund am Karlsplatz gefunden. Ich habe ihn blöderweise eingesteckt im Rausch", gibt der Unbescholtene zu. "Es ist natürlich schön, wenn man alles auf den Alkohol schieben kann", merkt Zwangsleitner sarkastisch an.

Sie glaubt R. die volle Berauschung ebenso wenig wie der Staatsanwalt. Einerseits, da ein medizinischer Sachverständiger das ausschließt. Andererseits, da die Polizei in ihrem Protokoll keine Ausfallserscheinungen bei dem Burschen festgehalten hat. Und vor allem, da der Angeklagte damals fähig war, die lebensgefährliche Attacke kurz vor 4 Uhr morgens mit seinem Mobiltelefon zu filmen. "Das ist ja eigentlich krank", stellt die Vorsitzende in den Raum. "Ja, das ist es", gibt R. leise zu. "Was wollten Sie mit der Aufnahme machen? Ins Internet stellen?", fragt Zwangsleiter. "Nix", antwortet der arbeitslose Angeklagte.

Schläge und Fußtritte gegen den Kopf

Da das Opfer nicht gemeldet und daher unauffindbar ist, wird die Aussage des Mannes verlesen. R. fragte ihn nach Wodka. Als er sagte, er habe keinen, habe der Angeklagte unvermittelt begonnen, auf ihn einzuprügeln und mit den Füßen gegen seinen Kopf zu treten. "Ich kenne den Mann nicht und weiß nicht, warum er das gemacht hat", sagte das Opfer. Die Verletzungen waren verheerend: Unter anderem erlitt der Mann ein Schädel-Hirn-Trauma und eine Gehirnblutung. "Der hätte auch sterben können", sagt die Vorsitzende zum Angeklagten. Der senkt beschämt den Kopf und schweigt.

Wie sich beim Auftritt des Zeugen Manuel J. herausstellt, war es nicht die einzige Gewalttat. Der 37-jährige J. stand kurz nach 4 Uhr mit seiner Frau beim Westbahnhof und wartete auf den Nachtbus. Er sah den Angeklagten auf einer Grünfläche, wo er mehrmals zu einem anderen Wohnungslosen hinging und diesen gegen den Kopf schlug. "Ich habe erst gedacht, die kennen sich vielleicht und es ist Spaß", erinnert sich der Zeuge.

Mangelnder Respekt als Begründung

Als ihm bewusst wurde, dass es Ernst ist, ging er hin und wies den Jugendlichen zurecht. "Ich habe ihn gefragt, warum er das macht. Er antwortete, er werde nicht respektiert." R. sei zwar alkoholisiert gewesen, aber sicher nicht sturzbetrunken, ist J. überzeugt. Der Angeklagte sei immer aggressiver geworden. Als der Zeuge die Polizei alarmierte, habe er versucht, auch ihn anzugreifen. "Meine Frau hat sich dazwischengestellt, der Angeklagte hat noch extra gesagt, sie solle weggehen, da er sie nicht verletzen wolle." Erst zwei arabischstämmige Jugendliche hätten R. dann weggezogen und beruhigt.

Zwangsleitner bedankt sich bei J. für sein Erscheinen und seine Zivilcourage, ehe sie um die Schlussplädoyers bittet. Der Staatsanwalt fasst seine Meinung kurz und unverblümt zusammen: "Es ist absolut widerlich, und das Filmen ist noch schlimmer." Verteidiger Zlatko Petronijevic verweist auf das ungetrübte Vorleben seines Mandanten und führt auch die ADHS-Erkrankung, an der der 17-Jährige seit der Kindheit leidet, ins Feld.

18 Monate bedingt und Bewährungshilfe

Nach kurzer Beratung des Senats verkündet die Vorsitzende eine Haftstrafe von 18 Monaten bedingt, zusätzlich ordnet sie Bewährungshilfe an. In ihrer Begründung weist Zwangsleitner nochmals auf die "extrem brutale Vorgehensweise" hin und hält fest, dass R. lediglich durch seine Minderjährigkeit vor einer teilbedingten Strafe geschützt wurde. Sie rät dem Teenager noch, vielleicht einmal etwas für Obdachlose zu spenden. "Aber das kann ich Ihnen nicht auftragen", bedauert sie. (Michael Möseneder, 26.2.2021)