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Die Bären sind noch richtig aus Metall, aber sonst wird es am Montag beim startenden European Film Market alles nur virtuell geben – vor allem die Filme.

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Vor rund einem Jahr endete mit der 70. Berlinale das letzte Filmfestival vor der Covid-19-Pandemie. US-Regisseur Paul Schrader ließ damals mit der Einschätzung aufhorchen, dass bis zur Ausgabe von 2021 kein weiteres mehr stattfinden würde. Viele hielten das für Schwarzmalerei, doch die Wirklichkeit hat den alten Fuchs sogar noch übertroffen. Nach langem Zögern musste die größte deutsche Kulturveranstaltung verschoben werden. Am Montag startet nun mit dem European Film Market (EFM) als Ersatz ein Branchentreff – jener Teil des Festivals, der dem Verkauf und Vertrieb der Filme vorbehalten ist. Der physische Teil mit Kinovorstellungen soll im Juni nachgeholt werden.

Der Grund für diese auf den ersten Blick verwirrende Filetierung ist schnell erklärt: Durch die zahlreichen Absagen im Festivalzirkus von 2020 ist der Stau an Filmen so groß, dass jede Lösung eine bessere ist, als nur auf andere Zeiten zu warten. Ohne Festivalpräsenz drohen die Filme im Limbo eines ewigen Aufschubs festzusitzen. Nun will man, um ein Modewort zu verwenden, der Branche eine Perspektive bieten, und zwar für jene hoffentlich nicht allzu weit entfernte Zeit, in der Kinos wieder aufsperren dürfen und mit neuen Filmen entsprechenden Anreiz bieten können.

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Berlinale heute und gestern: Wo letztes Jahr der rote Teppich war, herrscht diesmal Leere am Beton.
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"Wir versuchen, den Filmen einen Schub zu geben, da mit dem Branchenevent ihre Reise in die Kinos beginnt", sagt Mariette Rissenbeek, der geschäftsführende Teil der Berlinale-Intendanz dem Standard. "Und dieser Weg muss unterstützt werden." Um die Sichtbarkeit zu steigern, hat man die Wettbewerb-Sektionen beibehalten und wird Ende nächster Woche sogar die Bären-Trophäen verleihen.

Weltvertriebe skeptisch

"Die Tatsache, dass das Publikum die Filme erst danach sehen wird, ist natürlich nicht perfekt", meint der für das Programm verantwortliche Co-Direktor Carlo Chatrian. Aber die Selektion würde nun immerhin auch der Presse offen stehen und beurteilt werden können. Die Auswahl ist kleiner, distinguierte Autoren dominieren. Dies liegt auch daran, dass einige Weltvertriebe zu dieser Form der Online-Präsentation nicht bereit waren, sagt Martin Schweighofer von der Austrian Film Commission, die den heimischen Film im Ausland bewirbt. Auch bei einer chancenreichen heimischen Produktion sei dies der Fall gewesen. "Jeder möchte, wenn es nur irgendwie geht, eine physische Premiere."

Und dennoch, die Solidarität der Branche ist groß, man will Lebenszeichen senden. Nicht zuletzt kommt die Berlinale ihrer Aufgabe nach, einen Berg an deutschen Produktionen abzubauen, die in diesem Jahr besonders zahlreich im Programm vertreten sind. "Gegenwärtig besteht das Risiko, dass nicht alle Filme für alle verfügbar sind", sagt Chatrian und spielt damit auf die Corona-Gewinner an, die Streamingplattformen.

Die Dominanz einiger weniger globaler Unternehmen befördert nicht gerade die Vielfalt. Nur ein kleines Segment an Filmen wird veröffentlicht, für viele andere bleibt dieser Weg verschlossen.

Markt im Umbruch

Filmfestivals sind als Event-orientierte Veranstaltungen nicht nur beim Publikum beliebt, sie fungieren auch als kuratierte Schleusen in einen Markt, der sich im Umbruch befindet. Die großen Festivals wie Cannes und Berlin sind traditionell immer noch eng an die Kinolandschaft angebunden, selbst wenn die Cinephilie, die Liebe zum Kino, mitunter schon zum leeren Schlagwort geworden ist. Es herrscht auch Mangel an Alternativen: Gerade auf dem Arthouse-Sektor sind Streamingplattformen wie Mubi rar wie Diamanten.

Die mögliche Beschleunigung der Verwertungsfenster, die in Zukunft einen flexiblen Übergang zwischen Kino und Streaming mit sich bringen könnte, würde für Festivals nicht so viel verändern, glaubt Chatrian. Ein wenig anders klingt das bei Rissenbeek: Die neuen Online-Strategien von großen US-Produktionen könnten durchaus dazu führen, dass sie auf Festivals weniger Präsenz bekommen. Das lässt den Schluss zu, dass sich deren Rolle als Durchlauferhitzer verändern wird.

Kluft zwischen Independen-Film und Studios

Es bleibt abzuwarten, ob damit auch die Kluft zwischen dem reichhaltigen Feld von Independent-Produktionen und Studiofilmen – darunter auch jene von Netflix und Co – anwachsen wird. Der Umgang ist von Festival zu Festival verschieden, Venedig ist gegenüber den Streamern aufgeschlossener. "Ich bin überzeugt, dass die Rolle der Festivals noch wichtiger werden wird", sagt Rissenbeek. "Mit Online-Angeboten kann man sie nachhaltiger und integrativer gestalten."

Für Chatrian sind sie gar die "Gatekeeper der Freiheit": Sie öffnen einen demokratischeren Raum, indem sie auch jene Filme zeigen, die weniger potenzielle Reichweite haben. "In Athen war die Demokratie auf diejenigen beschränkt, die den Status einer Staatsbürgerschaft besitzen. Wollen wir das wiederholen und die Staatsbürgerschaft durch ein Abonnement ersetzen?"

In eine ähnliche Kerbe schlug Martin Scorsese in einem jüngst veröffentlichten Essay im Harper’s Magazine, in dem er "Content" als uniformen Begriff für die Vielfalt an Filmen, wie er seit dem Erfolg von Streamingplattformen die Runde macht, kritisierte. Algorithmen, die das Filmangebot für den Zuschauer nur an seinen Vorlieben messen, seien nicht demokratisch, sondern würden ihn "als Konsumenten und nichts anderes" behandeln, so der US-Regisseur. Erst in kuratierten Programmen findet Filmkultur ihren genuinen Ausdruck – Festivals sind im Idealfall ein Teil davon. (Dominik Kamalzadeh, 27.2.2021)