Mit im Angebot des rekordverdächtigen dreieinhalbstündigen Albums von Kìzis: weltumarmende Popsongs, Balladen und Spoken-Word-Beiträge.

Muriel Swan Sofi

Ein Album mit 36 Songs und einer rekordverdächtigen Gesamtspieldauer von dreieinhalb Stunden lässt auf dreierlei schließen: Entweder hat hier jemand künstlerisch sehr viel zu sagen. Das kreative Herz quillt aus Mitteilungsbedürfnis sozusagen über. Es kann auch sein, dass im Gegensatz zu anderen von Selbstzweifel oder Schreibblockaden geplagten Musikerinnen die Arbeit leichter, routinierter und selbstverständlicher von der Hand geht. Gut möglich aber auch, dass wir es aktuell mit einer Kunstschaffenden zu tun haben, die einfach nicht dazu in der Lage ist, ihr Material zu kürzen, zu sortieren und einer Qualitätskontrolle zu unterziehen.

Die im kanadischen Montreal beheimatete, indigene und Trans-Musikerin und -Performerin Kìzis legt mit Tidibàbide / Turn : Four Spirits in Motion (Tin Angel Records) ein tatsächlich jeden Rahmen und vor allem auch die Aufmerksamkeitsspanne des heute auf das Häppchenformat von Spotify geeichten Publikums vor. Es ist trotzdem ein Album des Jahres geworden.

Hippieske Naturmystik

Immerhin treffen in diesem musikalischen Universum nicht nur die indigene Kultur der nordamerikanischen Ureinwohner, der Algonquin, und ihre für zivilisationsgeschädigte Menschen leicht verstörend-hippiesk wirkende Naturmystik auf pumpende Technotracks.

Kìzis meint dazu im Interview mit dem kanadischen xtramagazine: "I made this music because I love to create and sing with my native language, first and foremost, as well as English. I take the teachings of my Indigenous family in all different sizes and skin tones to heart. We deserve every opportunity to enjoy the sun on our faces when we’re not underground and let nature do what it does best."

Tin Angel Records

Mantraartige Native-Tongue-Gesänge mit Handtrommel als einziger Begleitung und deren Tradition in Pow-Wow-Tänzen gehen auf Tidibàbide / Turn : Four Spirits in Motion über in auf Oberheim-Synthesizer generierte, wunderbar sanfte und spirituelle, man möchte fast sagen pastorale R-’n’-B-Balladen. Orchestral üppig mit Streichern und Chören arrangierter Weltumarmungspop ist ebenso zu hören wie längere (oder längliche) Spoken-Word- und Jazz-meets-Lyrik-Passagen.

Ab und zu droht man beim Hören etwas müde und unaufmerksam zu werden. Ab und zu muss man auch einfach die Pausetaste drücken. Und dann kommt doch wieder ein Song, bei dem man vor Rührung wegen all dieser immer wieder auch so unschuldig beziehungsweise unverdorben klingenden Musik beim Refrain losheulen möchte.

Kìzis - Topic

Sister Flower 2 (4 Spirit) ist so eine Songperle, We Are Strong eine andere. No Canada deutet die kanadische Nationalhymne als Trauerarbeit. The Exquisite Party Girl, ungefähr in der Albummitte positioniert, ist ein mit hundert Aufnahmespuren aufgetürmtes Gebirge von einem Song. Amanda hingegen ruft mit Synthpop zum selbstbewussten Blick nach vorn zur queeren Einheit auf dem Dancefloor auf. Die Troubles und Anfeindungen aus der Kindheit sind nun vorbei: "A child that you don’t have to be anymore!" Es geht auf diesem Album neben einem sehr starken Gemeinschaftsgedanken vor allem auch um Empowerment.

Hymnische Momente

Multiinstrumentalistin Kìzis produzierte dieses den Rahmen sprengende Werk zwischen den Kontinenten, mit Stationen in Montreal, Berlin, Lima und London. Insgesamt über 50 Gastmusikerinnen sind beteiligt, darunter etwa der oscarnominierte kanadische Komponist und Arrangeur Owen Pallett. Er bereichert mit seinen jubilierenden und mitunter an Kirchenhymnen erinnernden Soundvorstellungen die Popwelt in der Vergangenheit etwa auch als ordnende Hand hinter Arcade Fire. Hier sorgt er mit den Streicherarrangements auf Tebewewin (Ancestral Mother) für großartige Popmomente.

Kìzis sieht ihre Arbeit als profanen wie sakralen Raum. Man könne darin sitzen, nachdenken oder zur Sonne "beten". "Kìzis" ist das Alonquin-Wort für Sonne. Man könne zu den Liedern aber auch tanzen. Erhältlich auf Bandcamp. (Christian Schachinger, 1.3.2021)