Der albanische Künstler Anri Sala mit "Title Suspended (Sky Blue)". Zu finden in Thomas Trummers Band "Bilder in der Pandemie".

Sylvain Deleu Courtesy of the artist, Hauser & Wirth © Anri Sala, Bildrecht, Wien 2020

Im März 2020, als die Welt in einer Mischung aus Schaudern und Staunen in den Stillstand schlitterte, war der Maler der Stunde schnell gefunden: Die einsamen Interieurs und Straßenansichten von Edward Hopper drängten sich als Sinnbilder für eine neue Disziplin namens "Social Distancing" geradezu auf. Die Hopper-Schau, die kurz zuvor in der Schweizer Fondation Beyeler eröffnet worden war, dürfte den Vergleich zusätzlich angeregt haben.

Ein Jahr später passt in der Hamburger Kunsthalle Giorgio de Chirico wie die Faust aufs Lockdown-geschulte Auge. In den ikonischen Gemälden des Italieners, nur sechs Jahre jünger als Hopper, wird die Stadt zur traumartigen Kulisse: Die Plätze sind menschenleer, die Schatten fallen unheimlich aus ihrer natürlichen Bahn.

Sehen wir Bilder im Licht unserer eigenen Umstände? Aber ja! Und falls nicht, hilft der Kunsthistoriker eben nach: Da werden die Pfeile auf einem Blatt von Paul Klee zu Corona-Leitsystemen und die Farbfelder eines Piet Mondrian zu Quarantäne-Zellen. Eine "banausische Lesart", wie Thomas D. Trummer dazu fast entschuldigend anmerkt.

Ein Podcast zum Thema

Mit gutem Willen lässt sich die Gegenwart in vieles hineingeheimnissen, es mangelt nicht an anregenden Deutungsangeboten, und sie knüpfen keineswegs nur an den gängigen Corona-Insignien wie der Maske an.

Trummer ist Direktor des Kunsthauses Bregenz; im Frühling 2020 startete er den Podcast "Sonic Views", eine Reihe akustischer Bildbetrachtungen im Lichte der Pandemie. Eine Auswahl ist jetzt in Buchform erschienen. Bilder in der Pandemie ist ein lesenswerter Streifzug durch die Kunstgeschichte, in dem man neben Assoziationsketten detaillierte Auseinandersetzungen mit historischen Seuchenbildern wie Nicolas Poussins Die Pest von Aschdod findet.

Hopper ist nicht dabei, dafür de Chirico. Und ein expressionistisches Frauenporträt, das 2020 zum Symbol für die Proteste gegen den belarussischen Langzeitpräsidenten Alexander Lukaschenko geworden ist. Der 1893 nahe Minsk geborene, später in Paris lebende Künstler Chaïm Soutine malte Eva 1928, in der von Aktivisten des Widerstands bearbeiteten Version von 2020 zeigt sie dem Regime den Stinkefinger.

Kein Tunnelblick

Das Originalgemälde ist Teil der Kunstsammlung der Belgazprombank, deren ehemaliger Chef gerade in Minsk vor Gericht stand. Viktor Babariko wollte bei der Präsidentschaftswahl 2020 gegen Lukaschenko antreten; bevor es dazu kam, wurde er wegen des Vorwurfs der Geldwäsche und Steuerhinterziehung verhaftet. Die Sammlung, die Werke weißrussischer Künstler von Marc Chagall bis Soutine umfasst, ließ Lukaschenko beschlagnahmen.

Und Corona? Man wird daran erinnert, dass Lukaschenko die Bedrohung durch das Virus in Autokratenmanier als "Psychose" abgetan hat. Dass Trummer immer wieder das Weltgeschehen abseits von Covid-19 streift, tut der Sache gut. Die Tendenz zum Tunnelblick ist schließlich eine der Folgen der Pandemie.

Neue Aktualität

Mit Unvergessliche Zeit hat Trummer in Bregenz letztes Jahr so etwas wie die Insta-Schau zur Krise gezeigt. Zu sehen waren darin Markus Schinwalds mit merkwürdigen Gesichtsprothesen ausgestattete historische Porträts, die lange vor Ausbruch der Pandemie entstanden sind, aber durch sie neue Aktualität erfuhren.

Der schlagende Beweis für das, was Trummer in Anlehnung an Wittgenstein "zeitgebundenes Sehen" nennt? Selbstverständlich ist Schinwald im Buch vertreten. Außerdem Maria Theresia als Impfpionierin, Martha Roslers Semiotics of the Kitchen als Kommentar zum Corona-bedingten Rückfall in alte Rollenklischees, eine rätselhafte Frau mit Maske auf einem Altarbild von Cranach, Krankheit, Einsamkeit und Tod. Dass die Kunst sich seit jeher an existenziellen Fragen des Daseins abarbeitet, ist auch ohne Corona-Brille zu erkennen. (Ivona Jelčić, 1.3.2021)