Europa hat nur eine Chance, den Kampf um die Werte zu gewinnen, wenn es die Vorteile wiederentdeckt und mehr Bürgerdemokratie wagt, sagt Daniel Dettling, Leiter des Instituts für Zukunftspolitik in Berlin, im Gastkommentar.

Bild nicht mehr verfügbar.

Schnell war man wegen Corona wieder bei dem, was dank EU (fast) als überwunden galt: Ego-Länder mit geschlossenen Grenzen.
Foto: Getty Images/EyeEm

Corona ist eine Tiefenkrise, wie sie die Welt seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hat. Das Virus hat die Grundlagen und Werte unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Miteinanders auf unbestimmte Zeit erschüttert. Die Pandemie wird auch zum Beschleuniger von Veränderungen, die vorher begonnen hatten und auf einen Wendepunkt zuliefen. Wie wird Corona das Verhältnis von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik verändern? Welche geopolitischen Folgen sind absehbar, und ist das westliche Modell der liberalen Demokratie noch zukunftsfähig?

Kurzfristiger Gewinner

Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie wie Arbeitslosigkeit, Unsicherheit und Staatsverschuldung lassen eine neue Welle des Populismus erwarten. China ist zumindest der kurzfristige Gewinner der Krise. Sein Modell der autoritären Überwachungsdiktatur wird den Westen in Zukunft noch stärker herausfordern. Weltweit ist die Demokratie erstmals seit langem wieder auf dem Rückzug. Heute glaubt selbst in Europa eine Mehrheit, dass autoritäre Staaten wie China Krisen wie Corona oder den Klimawandel besser in den Griff bekommen.

Global beschleunigt Corona die Regierungsform der Despotie – eine Regierungsform, die auf Willkür, Antiliberalismus und Furcht setzt, im globalen Verbund (China, Russland, Iran) und mithilfe digitaler Vernetzung. Das Mantra vom "Ende der Geschichte" mit der Erzählung, dass Zukunft nur die Fortsetzung und Mehrung des Gegenwärtigen ist, hat sich als Irrtum entpuppt.

Bessere Version

Heute glauben nur wenige Europäerinnen und Europäer und noch weniger US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner, dass die Zukunft eine bessere Version der Gegenwart ist. Auch weil die real existierende Demokratie ihr Versprechen des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl der Menschen nicht mehr einlöst.

Corona kann die europäische Integration weiter befördern oder ihr vorläufiges Ende bedeuten. Ob Wirtschaft, Gesundheit, Verteidigung oder Energie: Europa muss zur neuen globalen Supermacht werden – oder es wird den "Kampf der Werte" verlieren. Voraussetzung ist, dass die EU nicht nur die "Sprache der Macht" (Ursula von der Leyen) lernt, sondern auch die Vorteile wiederentdeckt, die das europäische Modell von autoritären Systemen unterscheidet: seine Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstkorrektur. Es geht um eine neue europäische Zukunftsidentität. Was auf dem Spiel steht, hat Corona gezeigt: der Rückfall in ein Europa der Ego-Länder mit geschlossenen Grenzen.

Radikale Politik

Der Kampf gegen Corona kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und zu einem neuen Verhältnis und einem besseren Verständnis der Generationen führen. Die junge Fridays-for-Future-Generation wird sich mit den Älteren verbünden. Eine breite Bewegung für Neo-Ökologie entsteht: Der grüne Schutz des Planeten gegen seine Zerstörung und der weiße Schutz des Menschen gegen Pandemien gehen Hand in Hand. Aus radikalem Protest wird radikale Politik.

Eine konkrete Antwort auf die Desinformationen aus China, Russland und anderen Diktaturen ist eine neue systemische Verbindung von Demokratie und Digitalisierung, etwa durch eine europäische Medien- und Datenplattform. Öffentliche Daseinsvorsorge erweitert sich um Datenvorsorge: Demokratische Intelligenz und digitale Souveränität gehören zusammen. Europa muss seine technologischen Standards und Normen entwickeln und global behaupten, auch durch eine Digitalsteuer. Gleiches gilt für die ökologischen Standards. Nur ökologisch produzierte Waren dürfen in Europa importiert werden.

Erneuerung der Demokratie

Nach innen können autoritärer Despotismus und Populismus nur durch eine Erneuerung der Demokratie, ihrer Institutionen und Werte überwunden werden. Es geht um eine Stärkung der politischen Angebots- wie der Nachfrageseite: Politiker, die kommunalpolitische Erfahrungen mitbringen, und Bürger, die auch jenseits von Wahlen mitbestimmen. "Mehr Bürgerdemokratie wagen" statt Angst vor dem Volk und den Wählern lautet ein Ausweg aus der Misere des westlichen Demokratiemodells.

Für den französischen Ideenhistoriker Pierre Rosanvallon sind Verschwörungstheorien Ausdruck einer "Suche nach der Wahrheit", deren Ursache er in Mängeln der "unvollendeten Demokratie" sieht. Die Erneuerung der liberalen Demokratie braucht nicht nur institutionelle Reformen, sondern auch eine Zukunftsgeschichte der neuen Aufklärung, die an die Stelle der despotischen Untergangserzählung tritt. Statt um Kulturkämpfe wie "Volk gegen Elite", "Nationalismus gegen Globalisierung" und "Patriotismus gegen Vielfalt" ist der Kampf der Werte ein Kampf um die Zukunft.

Epoche der Aufklärung

Die nächste Epoche der Aufklärung braucht mutige Bürgerinnen und Bürger, Heldinnen und Helden. Menschen, die den Despoten und Verschwörungstheoretikern den Wind aus den Segeln nehmen, im Netz, auf den Straßen, in den Schulen, in den Parlamenten. Die Helden unserer Zeit sind Journalisten, Lehrer, Erzieher – Menschen, die sich kümmern und Respekt verdienen. Mit der Demokratie ist es wie mit der Gesundheit: Wir wissen sie erst zu schätzen, wenn wir sie verloren haben. Gesund zu bleiben, ohne den Weg in die Unfreiheit zu gehen, ist der beste Weg in die Zukunft. (Daniel Dettling, 1.3.2021)