Im Stück sich selbst und dem Bürgerkrieg überlassen, von Corona an der realen Erstaufführung gehindert: Tonia Fechter, Katharina Schumacher und Christine Dorner (v. li.) in Nino Haratischwilis Drei-Personen-Stück.

Foto: Marcel Koehler

Drei Frauen, die guten Seelen eines sich selbst überlassenen Haushalts, stieren hinein ins Dunkel. Die Theatertribüne vor ihren Augen, eine Mittelbühne im zweiten Wiener Gemeindebezirk, ist gähnend leer. Noch muss man sich um das Theater Nestroyhof keine Sorgen machen. Leer stehen im Moment landesweit alle Bühnen. Diese hier probt für einen Ernstfall, den es vorderhand nicht geben darf.

Draußen knallen, der dystopischen Stimmung des Stückes wegen, Schüsse. Der Text erzählt vom Bürgerkrieg. Die Herrschaft, bestehend aus einem General und dessen Gemahlin, hat Hals über Kopf das Weite gesucht. Man bekommt die Unterdrücker nicht zu Gesicht. Und doch kreist die Handlung spiralförmig, in Verkleidungsproben von ausgesuchter Frivolität, um die leere Mitte.

Das Drama "Herbst der Untertanen", eine Jean-Genet-Variation der deutsch-georgischen Autorin Nino Haratischwili (37), lebt vom Perspektivenwechsel. Der Plot spiegelt Mord, Hass und Besitzgier in den Augen dreier Unterdrückter wider. Jede ist Opfer. Jede ist eine im Handumdrehen sadistische, von der eigenen Findigkeit im Quälen hingerissene Täterin.

Im Wiener Hamakom-Theater findet gerade die letzte Endprobe statt. Regisseur Michael Gruner (76), einst Oberspielleiter in Stuttgart und langjähriger Intendant am Schauspiel Dortmund, sitzt wie ein verzücktes Kind vor der schütter dekorierten Bühne: Zeit der Bescherung. Auf der Tribüne findet der einsame Probenbesucher unbegrenzt Platz, um sich auszubreiten.

Prospero, inkognito

Gruner, ein zur Grübelei geneigter Mann, erschien – Zauberer Prospero inkognito – in zerknautschtem Anzug. Seine generöse Einladung zum Kiebitzen, ermöglicht durch Beibringung eines negativen Corona-Testats, ist die erste Wiederbegegnung mit echtem, gut durchblutetem Theater seit geschlagenen viereinhalb Monaten.

Während der Aufführung, die natürlich keine ist, sondern lediglich eine maximal ernste Probe von hinreißender Qualität, wispert er der Assistentin häufig Anmerkungen ins Ohr. Er liebt die drei Geister, die er für eine nunmehr abgesagte Erstaufführung – sie hätte heute, am 2. März, stattfinden sollen – zu flackerndem Leben erweckt hat. Einmal wird zu spät der Stecker eines Fernsehers gezogen. Sofort korrigiert Gruner, der mildeste Gottvater, der sich denken lässt, den eigenen Schöpfungsplan.

Da ist die greise Beschließerin (Christine Dorner), die vor Rechtschaffenheit strotzt. Sie wird von Gruner noch vor Beginn des Durchlaufs zu sich gebeten. Das graue Haar trägt sie hochgesteckt. Katharina Schumacher hat früher bei Roberto Ciulli in Mülheim gespielt, noch früher beim legendären Kurt Hübner in Bremen. Der Regisseur spricht beruhigend auf sie ein. Die Situation wirkt abwegig: Man arbeitet bereits in zweiter oder dritter Tranche an diesem Domestiken-Totentanz. Nach dem einen Mal wurden die Grenzen dichtgemacht. Das andere Mal traf man einander zur Weiterarbeit in Worpswede.

Zähe Rebellin

Die Haushälterin (Katharina Schumacher) bildet den Kontrapunkt zu Dorner: eine zähe, weißblonde Rebellin. Gemeinsam kontrollieren die beiden die Jüngste, Luci (Tonia Fechter), ein Flüchtlingskind. Wenn Schumacher dem Nesthäkchen das Tranchieren eines Huhns anschafft, dann meint man, der Anleitung zur Autopsie eines Leichnams zuzuhören.

Man bleibt einander nach Maßgabe der Hierarchie wohlgesonnen. Gleichzeitig piesacken die Haushaltsgehilfinnen einander aufs Blut. Draußen tobt der Aufruhr. In der Wirklichkeit, hinter dem Nestroyplatz, regiert Corona. In den Theatern herrscht Sendepause.

Und auch Gruners Schöpfung kann erst mit grotesker Verspätung ins Bühnenlicht rücken. Aufgrund diverser Vertragsverpflichtungen muss die Erstaufführung bis nach 2022 hinein verschoben werden. Gruner macht gute Miene zum vertagten Spiel. Er weiß, das Stück ist den Schauspielerinnen in Fleisch und Blut übergegangen. "Die Strukturen laufen unbewusst." Was er meint: Alle Abläufe sitzen.

Als das Licht im Saal anspringt, gehen die drei Mitwirkenden kommentarlos ab. Als einziger Zeuge kaut man verlegen am Stift. Als hätte man durchs Schlüsselloch ins Badezimmer geblinzelt. Ingrid Lang, Leiterin des Hamakom-Theaters, hat die Anfertigung einer Probendokumentation zugesichert. Streaming? Kein Thema für sie: "Theater ist live und unersetzbar."

Man sollte sich für die Februarabende des Jahres 2022 dieser Produktion wegen nichts vornehmen. (Ronald Pohl, 2.3.2021)