Viel wird in diesen Tagen von der Unschuldsvermutung und einem ihrer Gegenpole, der "medialen Vorverurteilung", gesprochen: sei es in der Causa Blümel oder bei den Ermittlungen gegen Verfassungsrichter Wolfgang Brandstetter und Justiz-Sektionschef Christian Pilnacek. Bevor es zu einer rechtskräftigen Anklage oder gar einer Verurteilung komme, seien Rücktrittsforderungen fehl am Platz, heißt es oft. Sogar die vorläufige Suspendierung von Pilnacek könne man hinterfragen, wird kommentiert.

Die Ermittlungen gegen Justiz-Sektionschef Christian Pilnacek stehen noch am Anfang.
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Allerdings liegt hier eine unzulässige Vermischung verschiedener gesellschaftlicher Systeme vor, die nach unterschiedlichen Maßstäben operieren sollten und sogar müssen. Die Unschuldsvermutung ist ein essenzieller Bestandteil des Rechtssystems. Sie besagt, dass jeder, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, bis zu einer Verurteilung vor Gericht als unschuldig gilt. Das müssen natürlich auch Akteure des politisch-medialen Systems beachten, wenn sie etwa über Fälle sprechen. Niemand soll, ja darf sagen, dass ein Beschuldigter ein Verbrechen begangen hat.

Allerdings sollte das Strafrecht in allen Bereichen des Lebens nur die Ultima Ratio sein. Erst vor wenigen Monaten, im Wiener Wahlkampf, warb Gernot Blümel damit, für eine "Mitte-rechts-Politik mit Anstand" zu stehen. Er selbst war es, der den "Anstand" ins Spiel gebracht hat – und hoffentlich ist unsere Vorstellung von Anstand nicht nur, dass sich jemand keines Verbrechens schuldig macht.

"Rote Linien"

Korruption ist auch kein rein strafrechtlicher Begriff: So wies die Staatengruppe gegen Korruption (Greco) erst diese Woche darauf hin, dass die Korruptionsprävention in Österreich "allgemein unbefriedigend" sei.

Deshalb ist es auch so wichtig, dass Medien ausführlich aus Ermittlungsakten zitieren – und das, entgegen den Vorstellungen der ÖVP, auch weiterhin tun dürfen. Nur so erhalten Wählerinnen und Wähler einen authentischen Eindruck darüber, wie eng beispielsweise das Verhältnis zwischen Blümel und dem ehemaligen Novomatic-Chef Harald Neumann war oder wie freiheitliche Politiker in internen Chatgruppen miteinander kommuniziert haben. Dasselbe galt damals auch für die Silberstein-Affäre: Strafrechtlich war sie, abgesehen von einigen konsequenzenlosen Seitensträngen, irrelevant. Aber es war die moralische Entrüstung über das Dirty Campaigning, die der SPÖ massiven Schaden bereitet hat.

Auch die letzten Rücktritte, konkret von Christine Aschbacher (ÖVP) nach der Plagiatsaffäre und Ulrike Lunacek (Grüne) nach Kritik aus der Kulturszene, hatten nichts mit dem Strafrecht zu tun. Oder man nehme den Rücktritt davor: Gegen Heinz-Christian Strache ist bislang keine Anklage eingebracht worden, von einer Verurteilung ganz zu schweigen. Trotzdem war fast allen klar, dass sein Rücktritt nach dem Ibiza-Video unausweichlich sei. Nun sind die SMS zwischen Neumann und Blümel kein Ibiza-Video; im Fall Pilnacek stehen die Ermittlungen am Anfang.

Die Öffentlichkeit muss also ständig und individuell ausverhandeln, welche "roten Linien" es gibt. Politiker wegen ihres Verhaltens zum Rücktritt aufzufordern oder kritisch zu berichten ist deshalb noch lange keine Verletzung der Unschuldsvermutung. Diese darf nicht dafür missbraucht werden, Diskussionen über Anstand und Moral zu unterbinden. (Fabian Schmid, 2.3.2021)