Im Gastkommentar erinnert der Musiker und Schauspieler Aliosha Biz an einen kleinen Vorfall mit großen Folgen.

Diese Geschichte erzählte mir einst ein kasachischer Schriftsteller. Es war im Jahr 1976. Die Welt war damals auch schon nicht in Ordnung. Aber anders als heute. In Kasachstan, einer der 15 Teilrepubliken der UdSSR, regierte mit eiserner Hand der Erste Sekretär der örtlichen Kommunistischen Partei, Dinmuchamed Kunajew.

Seine Macht wurde durch den aus Moskau direkt entsandten russischstämmigen Zweiten Sekretär "kontrolliert". Eine beliebte Praktik der Partei damals, nicht nur in Kasachstan – die Moskauer Zentralregierung hatte ihren Mann vor Ort, er konnte sich profilieren und auf einen späteren Aufstieg innerhalb der Partei hoffen. Dieser Posten wurde zur damaligen Zeit von Walentin Mesjaz bekleidet, einem unscheinbaren "Apparatschik".

Böse Sticheleien

Während die breite Bevölkerung in ärmlichen Verhältnissen lebte, war die Parteielite damals für ausschweifenden Lebensstil, noble Jagdgesellschaften mit Gästen aus dem verbündeten sozialistischen Ausland, für rauschende Feste und für "baulich aufwendige" Wohnverhältnisse im altzaristischen Stil bekannt. Also für all das, wogegen die Kommunisten eigentlich ursprünglich angekämpft hatten.

Auf einem dieser Jagdausflüge, in der Nähe des dahinsiechenden Aralsees (das Wasser aus den Zuflüssen Syrdarja und Amudarja wurde millionenliterweise für Baumwollplantagen entnommen), passierte Kunajew ein Missgeschick. Eine Gelse hat ihn gestochen. An und für sich nichts Schlimmes, doch wählte die Gelse eine intime Körperstelle des Parteibonzen, nämlich sein allerbestes Stück. Das führte zunächst nur zu Schmunzeleien der Gefolgschaft und wäre wohl harmlos ausgegangen, hätte der Zweite Sekretär Mesjaz nicht boshaft mit dem Sticheln übertrieben, welches das stolze Gemüt des örtlichen Patriarchen im Kern verletzte.

Weg zur Parteispitze

Szenenwechsel. Drei Jahre nach dem "Gelsenvorfall" fand die geplante Sitzung des Politbüros, der obersten Führungsriege der Partei, in Moskau statt, die dem Anlass gewidmet war, neue Mitglieder aufzunehmen. Eigens dafür wurden die Listen erstellt, in denen man auf den verschiedenen Wegen zur Parteispitze vorrückte (ähnlich wie bei anderen Parteien, der ÖVP etwa, ein Kandidat vom Bauernbund, einer vom Wirtschaftsbund, einer vom ÖAAB). Ganz oben auf der Kandidatenliste befand sich auch unser ehemaliger Zweiter Sekretär Mesjaz, inzwischen zum Agrarwirtschaftsminister aufgestiegen. Der Generalsekretär der KPdSU, Leonid Iljitsch Breschnew, verkündete die Kandidatur Mesjaz' und fragte Kunajew, der schon seit langem ein Politbüromitglied war: "Genosse Kunajew, was sagst du zum Mesjaz, er hat doch lange bei dir gearbeitet?" Kunajews Gesicht wurde ernst. Er sagte: "Ein guter, erfahrener Politiker, aber als Zweiter Sekretär hat er manchmal gegen den Willen des Ersten Sekretärs gehandelt!"

Michail Gorbatschow auf dem 28. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion 1990 in Moskau.
Foto: Imago Images

Illoyalität war in der Politik immer schon einer der schlimmsten Vorwürfe. Nicht nur in der UdSSR. Und nicht nur damals. Mesjaz' Name wurde aus der Liste gestrichen. Er wurde nie Mitglied des Politbüros. Stattdessen verkündete Breschnew den Namen eines Alternativkandidaten. Dessen Name war Michail Sergejewitsch Gorbatschow.

Alles Gute zum 90er, Michail Sergejewitsch, und danke, dass Sie das Schicksal der Welt und somit auch meines verändert haben! (Aliosha Biz, 2.3.2021)