Simulationen sind seit einigen Jahren nahezu allgegenwärtig, sei es im Kontext der Klimakatastrophe, der Covid-19-Pandemie oder bei der naturwissenschaftlichen Entwicklung neuer Technologien. Auch im Zusammenhang mit Geschichts- und Kulturvermittlung wird der Begriff ab und zu genannt. Hier werden unterschiedlichste computerbasierte Anwendungen, von virtuellen, dreidimensional erfahrbaren Geschichtsräumen bis hin zu Ego-Shootern, im historischen Kontext als Simulation bezeichnet, und damit wird das Bild vermittelt, man könne sich wie in einer Zeitmaschine virtuell in die Vergangenheit beamen.

Eine Vorreiterposition nimmt hier die "Assasin's Creed"-Reihe der Firma Ubisoft ein, die neben den eigentlichen Spielen eine "Discovery Tour" anbietet, in der "sich Besucher im antiken Griechenland und im alten Ägypten frei bewegen und etwas über die Geschichte und den Alltag der Menschen lernen" können. Weiter heißt es in der Selbstbeschreibung von Ubisoft: "Schüler, Lehrer, Spieler und Nicht-Gamer können diese Zeitalter in ihrem eigenen Tempo entdecken oder an geführten Touren teilnehmen, die von Historikern und Experten zusammengestellt wurden." Der mögliche didaktische Mehrwert und die Problematiken einer solchen Geschichtsvermittlung stehen hier aber nicht zur Diskussion. Hier soll hingegen gefragt werden, ob wir es bei solchen fast schon fotorealistischen virtuellen Welten wirklich mit Simulationen zu tun haben.

"Discovery Tour" von Ubisoft.
Foto: ubisoft

Schon die Römer simulierten

Dafür muss zuerst einmal näher betrachtet werden, was eigentlich eine Simulation ist: Bereits der römische Schriftsteller, Politiker und Philosoph Marcus Tullius Cicero benutzte diesen Begriff in seinem Spätwerk "De officiis" ("Vom pflichtgemäßen Handeln") mit der Bedeutung der Vorspiegelung falscher Tatsachen bis hin zur arglistigen Täuschung. Simulationen sind für Cicero jedoch nicht ausschließlich moralisch verwerflich, sondern in gewissem Maße auch nützlich. So bezeichnet er Odysseus, der sich – nach Ciceros Verständnis – vor dem Trojanischen Krieg drücken wollte und sich wie ein Verrückter gebärdete, zwar als unmoralisch, aber doch auch als schlau.

In diesem Sinne wurde der Begriff der Simulation und des Simulanten auch in der Medizin der Neuzeit genutzt. So versteht der Generaloberarzt der Königlich Sächsischen Armee, Ernst Georg Schill, in der "Deutschen medizinischen Wochenschrift" 33/1907 unter Simulation eine Krankheitsvortäuschung, aber auch die Selbstverstümmelung beziehungsweise das Inszenieren eines Unfalls zu dem Zweck, sich dem Militärdienst zu entziehen.

Sigmund Freud schreibt in einem Bericht an die K&K Kommission zur Behebung militärischer Pflichtverletzung: "Es schien zweckmäßig, den Neurotiker als Simulanten zu behandeln und sich über den psychologischen Unterschied zwischen bewußter und unbewußter Absicht hinauszusetzen, obwohl man wußte, daß er kein Simulant sei. Diente seine Krankheit der Absicht, sich einer unleidlichen Situation zu entziehen, so grub man ihr offenbar die Wurzeln ab, wenn man ihm das Kranksein noch unleidlicher als den Dienst machte. War er aus dem Krieg in die Krankheit geflüchtet, so wendete man Mittel an, die ihn zwangen aus der Krankheit in die Gesundheit also in die Kriegsdiensttauglichkeit zurückzufliehen. Zu diesem Zwecke bediente man sich schmerzhafter elektrischer Behandlung zwar mit Erfolg."

Naturwissenschaftliche Experimente

Auch hier zeigt sich, wie diskussionsbedürftig und im wahrsten Sinne des Wortes bedenklich der Begriff Simulation ist. Doch bringt uns dies für die spezifische Fragestellung dieses Beitrags nur insofern weiter, als klar wird, wie weit und unterschiedlich der Gebrauch des Begriffs in der Geschichte ist. Um nun auf die computerbasierte Simulation zu kommen, müssen wir zeitlich auf das Ende des Zweiten Weltkriegs und räumlich auf das Los Alamos National Laboratory (USA) blicken. Während der Entwicklung der ersten Atombombe entwarfen die Forscher Verfahren, um Experimente, die in der realen Welt nicht oder nur sehr begrenzt möglich waren, in computerbasierten Systemen nachzuahmen – zu simulieren.

Diese bahnbrechende Erfindung virtueller naturwissenschaftlicher Experimente wurde in den 1950er- und 1960er-Jahren zur Methode der computerbasierten Simulation weiterentwickelt. Mit dem rasanten Fortschritt der EDV in den 1970er-Jahren fand die Methode Eingang in die unterschiedlichsten Fachdisziplinen, von der Meteorologie, welche bis heute Simulationssysteme für die Erstellung der Wettervorhersagen entwickelt und verfeinert, bis hin zur Fertigungstechnik und dem Katastrophenschutz.

Heute können nukleare Störfälle ebenso simuliert werden wie die Strömungsverhältnisse in Flüssen oder die Wirkweisen von Viren. Die Größe oder Kleinheit des untersuchten Systems spielt dabei ebenso wenig eine Rolle wie die Kürze oder Länge des zu untersuchenden Gegenstands. Die Anwendungsmöglichkeiten umfassen die Betrachtung des Verhaltens der kleinsten Teilchen wie auch die Simulation der Ausdehnung des Universums in einem Zeitrahmen von Millisekunden bis hin zu kosmischen Zeitaltern. Wichtig ist dabei lediglich, dass die simulierten Experimente naturwissenschaftlich begründet sind und damit unter gleichen Voraussetzungen immer auf gleiche Weise mit gleichen Ergebnissen ablaufen. Daher definiere ich computerbasierte Simulation so:

Eine Simulation ist ein im naturwissenschaftlichen Paradigma verfasstes virtuelles, reproduzierbares Experiment zur Nachbildung eines Prozesses oder Zustands. Zielsetzung ist die Modellierung und Erprobung komplexer Systeme für die Gewinnung eines besseren Verständnisses von Abläufen und Wertigkeiten einzelner Faktoren sowie möglichst realitätsnaher Vorhersagen bzw. starker Eingrenzungen der naturwissenschaftlich möglichen Zukünfte (Möglichkeitsraum).

Simulierte Geschichte

Was heißt dies nun für eine Simulation von Geschichte? Zum einen muss klar sein, dass nur Menschen mit einem plumpen deterministischen Menschenbild, also einem Menschenbild, dass die Willensfreiheit des Menschen ignoriert, davon ausgehen können, dass sich Menschen oder deren individuelle Handlungen simulieren lassen. Die Kreativität des Menschen – wie nicht zuletzt der Soziologe Hans Joas (1996) eindrücklich zeigte – besteht darin, sich zu einer Handlungsoption verhalten und im Extremfall einfach "Nein" sagen zu können.

Jeder hat die Möglichkeit sich wie die Romanfigur Bartleby im gleichnamigen Roman von Herman Melville zu verweigern – bis hin zur Selbstaufgabe. Mag dies auch etwas überspitzt sein, so ergibt sich für eine Simulation von Geschichte jedoch das unweigerliche Problem, dass menschliche Handlung eben nicht naturwissenschaftlich determiniert ist und sich der Berechnung dadurch fundamental entzieht.

Damit soll aber keinesfalls gesagt werden, dass Simulationen keinen Mehrwert für die Geschichtswissenschaft besitzen, doch müssen wir ihn in anderen, naturwissenschaftlich berechenbaren Feldern suchen: Wir können historische Klimaveränderungen bis hin zu einzelnen Wetterlagen simulieren und dabei die berühmte Was-wäre-wenn-Frage stellen, die Leistung von historischen Schiffen oder die Schallausbreitung bei historischen Gebäuden. Alle auf Naturgesetzen beruhenden Phänomene können simuliert werden. Damit erfassen wir zwar nicht die Handlungen der einzelnen Menschen, aber die Umwelt, in denen sich diese bewegt haben. Dies schafft Räume von Möglichkeiten, in denen Geschichte stattfinden konnte. Damit stellen Simulationsergebnisse im besten Sinne Quellen für die Geschichte, die uns die schriftlichen Zeugnisse der Vergangenheit besser verstehen lassen.

Donauschifffahrt basierend auf historischen Quellen

Dies soll abschließend in einem kurzen Beispiel verdeutlicht werden. Nehmen wir einen fiktiven Bericht eines unbekannten römischen Autors über eine Flussschifffahrt mit einem damals üblichen Lastkahn, einer sogenannten "Prahm", die dieser auf der Donau zwischen Lauriacum (Enns an der Donau) und Vindobona (Wien) zurückgelegt hat. Er beschreibt das Wetter als sonnig und mild und die Fahrt als reibungslos. Mit Simulationen können modernen Wissenschafter und Wissenschafterinnen die Minimalzeit berechnen, in der sich diese Reise abgespielt hat. Stimmt diese mit dem antiken Bericht überein, so sprechen wir von Validität, was nicht heißt, dass der Autor die Reise wirklich getätigt hat– vielmehr bedeutet es, dass er eine realistische Einschätzung der Dauer hatte.

Sollte die Zeit im Bericht die der Simulation überschreiten, so ist zu überlegen, wo und wie die beschriebene Schiffspartie zum Beispiel in der Wachau pausierte. Im spannendsten Fall ist die in der antiken Quelle genannte Zeit jedoch kürzer als die errechnete. Dann gilt es genau zu hinterfragen, weshalb der Autor eine kürzere Zeit nennt. War es aus einfacher Unwissenheit, weil der Autor nie vor Ort war, oder hatte er einen triftigen Grund dafür, seinen angenommenen Lesern eine unrealistische Zeit zu nennen, zum Beispiel um seine eigene Eile oder die Kunstfertigkeit der norischen Schiffer herauszuheben? Antworten auf diese Fragen liefert die Simulation nicht, doch sie hilft Ungereimtheiten aufzudecken und die traditionellen Quellen in einem neuen Licht zu lesen.

Römische Prahm Mogontiacum
Foto: Wikicommons/Martin Bahmann CC 3.0 (https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5074448)

Hier zeigt sich der Mehrwert der Simulation als Quelle für die Geschichtswissenschaften. Wir können Geschichte (wenn wir darunter die Geschichte der Menschheit verstehen) nicht simulieren. Eine "Natur"-Geschichte auf Grundlage der Naturgesetze der Physik und Chemie können wir jedoch simulieren, und immerhin haben Menschen in dieser Umwelt gelebt, geliebt, gehandelt und geträumt.

Simulationen geben uns also eine Grundlage, auf der wir historisches Geschehen besser einschätzen können, was im besten Fall zu neuen Fragen führt. Antworten geben Simulationen jedoch nicht oder nur sehr begrenzt. Hierfür bedarf es der Einschätzung und Bewertung der Wissenschaft, die Modelle von der Vergangenheit aufstellt, welche die historische Realität in ihrer Komplexität nicht abbilden, sondern sie in unsere heutige Lebenswelt übersetzen und uns damit näherbringen. (Leif Scheuermann, 4.3.2021)