Archie Shepp – nach wie vor ein Virtuose des Subtilen.

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Wenn Pianist Jason Moran (Jahrgang 1975) Saxofonist Archie Shepp "Wie war das so damals?"-Fragen stellt, wendet er sich nicht an irgendeinen Zeitzeugen. Shepp (Jahrgang 1937) ist Mitinitiator jenes freien Spiels, das in den 1960ern konkrete Melodik, Rhythmik und Form aufgab – zugunsten eines Freiheit einfordernden Wutausdrucks. Shepp wütete mit Freejazzer Cecil Taylor und auch mit Mentor John Coltrane.

Der Altmeister wird Moran gern von den alten Zeiten erzählen. Er ist ein Mann des Worts, ein Literat auch, der Stücke schrieb. Eine typische Geschichte erlebte er auch mit Miles Davis, der als wenig umgänglich galt.

Wenig zuvorkommend

Der Trompeter hatte sich gegenüber dem jungen Shepp wenig zuvorkommend verhalten, und das ging so: In einem Jazzclub hatte sich der junge Archie höflich beim herumstehenden Miles vorgestellt.

Er erntete jedoch nur die Aufforderung, gefälligst mit sich selbst Liebe zu machen und zu verschwinden. Bevor es handgreiflich wurde – Shepp gab Miles verbal ordentlich zurück – ging es zum "Musikbattle" auf die Bühne.

Mehr als Powerplay

Doch während Miles nach einigen Nummern die Bühne verließ, blieb der Rest seiner Band beim nach wie vor wütend aufspielenden Archie Shepp. Es war dies, das wird auch Jason Moran wohl so deuten, ein gewichtiges Zeichen der Anerkennung durch die Kollegen. Es waren ja nicht irgendwelche. Bei der Band handelte es sich um das legendäre zweiten Davis-Quintett mit Saxofonist Wayne Shorter und Pianist Herbie Hancock.

Wer die Duoeinspielung von Moran und Shepp hört, also Let My People Go (Archieball Records), wird beim alten Herren die klassischen Wutelemente wahrnehmen.

Zu den Wurzeln

Es ist allerdings mehr zugegen als klassisches Powerplay: Als vielschichtiger Instrumentalist (und vorzüglicher Sänger) schlüpft Shepp in die Rolle des fragilen Individuums, das die Musikwurzeln seiner afroamerikanischen Community musikalisch anspruchsvoll deutet.

Spirituals wie Sometimes I Feel Like a Motherless Child wirken wie Erzählungen, in denen eine ruhelose Seele die Erfahrungen von Entwurzelung melancholisch in die Jazzmoderne transferiert. In Shepps Rhetorik verschmilzt Poesie und Protest.

Moran begegnet dieser Stilistik, die sich mit der Intonation spielt, nicht devot: Er umgibt Shepp behutsam mit einem harmonischen Energiefeld, das atmosphärisch dicht wirkt und Shepp nie einengt. Es öffnet eher Ideenräume. In solistischen Momenten zeigt sich Moran (den Shepp seinerseits per Youtube entdeckte ...) wiederum als pointierter Pianist. Er vermag Schönklang zu einem Abenteuer des Freitonalen umzugestalten.

Zu Trumps Zeiten

Dieses Generationentreffen (Livemitschnitte von 2017 und 2018) entstand in den ersten Jahren der Amtszeit von Donald Trump. Somit ist Let My People Go auch eine sublime Reflexion über die empathielosen Tendenzen dieser kürzlich abgewählten Präsidentschaft. Womöglich ein ästhetisch substanzvoll gestaltetes politisches Statement.

Allerdings: Wie immer bei Archie Shepp wird die afroamerikanische Erfahrungswelt durch die Qualität und die "brennende" Abstraktheit seines unberechenbaren Spiels auf eine universelle, humanistische Ebene gehoben. Sicher ein mögliches Album des Jahres. (Ljubiša Tošic, 2.3.2021)