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In Pandemiezeiten treffen Jugendliche einander nicht beim Sport oder zu Hause, sondern eben auf Whatsapp, Snapchat oder Tiktok. Dort wird leider auch viel gemobbed, wie eine aktuelle Studie zeigt.

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Es ist ein einminütiges, schnell zusammengeschnittenes Video, das die 14-jährige Annika nachts nicht schlafen lässt: Zu sehen sind Aufnahmen von Mülltonnen, Bilder von Müllhalden, dazwischen unvorteilhafte Schnappschüsse von ihr. Ein Klassenkollege, mit dem die Schülerin im Clinch ist, teilte es in einer Whatsapp-Gruppe. Annika, deren richtiger Name der Redaktion bekannt ist, ist relativ neu an der Wiener Mittelschule. Ihre Lehrerin berichtet, dass es der 14-Jährigen von Beginn an schwergefallen sei, Anschluss zu finden, und dann kam auch noch Corona. Seit Beginn der Krise hätten Beleidigungen, Beschimpfungen und Ausgrenzungen unter Jugendlichen stark zugenommen, ist sich die Pädagogin sicher. Und sie finden, wenig überraschend, vor allem online statt.

Cybermobbing ist gewiss kein neues Phänomen – dass sich die Fälle aber durch die Pandemie häufen, beobachtet nicht nur die Lehrerin aus Wien, das beobachten auch Expertinnen und Experten. In einer Umfrage des deutschen Bündnisses gegen Cybermobbing vom Vorjahr gaben 17 Prozent der befragten 13- bis 21-Jährigen an, schon einmal betroffen gewesen zu sein. Das sind um fast fünf Prozentpunkte mehr als in der Vorgängerstudie von 2017.

Die Erklärung der Studienautoren dafür ist, dass sich durch Homeschooling und Schichtbetrieb auch die sozialen Kontakte ins Netz verlagerten. Jugendliche treffen einander nicht beim Sport oder zu Hause, sondern eben auf Whatsapp, Snapchat oder Tiktok. Dort wünschen sie einander einen schönen Tag, dort tratschen und flirten sie, und dort tragen sie auch ihre Konflikte aus.

Mehr Onlinezeit

Eine vergleichbare österreichische Erhebung gibt es zwar nicht, der Befund könne aber genauso auch für hier gelten, sagt Caroline Weberhofer, Medienpädagogin an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Die Wissenschafterin bemerkt: "Eltern erlauben ihren Kindern in der Pandemie deutlich mehr Onlinezeit." Das bestätigt eine qualitative Studie der Universität Salzburg und der Pädagogischen Hochschule Salzburg. Für die Studie mit dem Titel "Kinder, digitale Medien und Covid-19" wurden vergangenes Frühjahr zehn österreichische Familien zu ihrer Mediennutzung befragt. Das Ergebnis ist, dass Kinder seit der Pandemie nicht nur häufiger, sondern auch länger Medien nutzten. Regeln, die bis dato nur für das Wochenende galten, wurden zu Beginn der Krise auch auf die Wochentage ausgeweitet.

Im Internet seien die Formen des Mobbings deutlich härter, sagt Weberhofer. Das klingt logisch – schließlich schauen die Täter ihren Opfern nicht ins Gesicht. "Ich sehe die Reaktion meines Gegenübers nicht, ich sehe seine Gestik und Mimik nicht, und da sinkt natürlich die Hemmschwelle, ihn zu beschimpfen." Dass jemand in Chatgruppen heruntergemacht wird wie die 14-jährige Annika, ist laut Weberhofer übrigens eine typische Form des Mobbings. Auch Ghosting, also jemanden einfach zu ignorieren, sei weitverbreitet. Viele Täter würden ihren Opfern aber auch Angst machen. "Sie schreiben ‚Deine Familie wird sterben‘ oder schicken Horrorvideos."

Folgen der Attacken

Die deutsche Studie gibt Aufschluss darüber, wie gemobbt wird. Am häufigsten berichten die Betroffenen, dass sie von anderen beschimpft oder beleidigt wurden, konkret waren es 72 Prozent. Mehr als die Hälfte wurde auch schon Opfer von Lügen oder Gerüchten. 41 Prozent fühlten sich schon einmal ausgegrenzt, etwa weil Freundschaftsanfragen nicht angenommen wurden. 30 Prozent sagen, dass peinliche Fotos von ihnen geteilt wurden, und weitere 30 Prozent wurden sogar bedroht oder erpresst. Jeder Vierte gab an, dass Fotos von seinem Profil in den sozialen Medien oder aus anderen Onlinefotoalben kopiert und dann woanders veröffentlicht wurden. Laut der Studie fühlen sich die Opfer durch Cybermobbing vor allem verletzt, viele reagieren auch mit Wut. Den Tätern sei oft gar nicht bewusst, was sie mit ihren Angriffen anrichten, sagt Weberhofer. "Sie meinen oft, dass es ja nur Spaß gewesen sei."

Die Folgen seien jedoch fatal. Gerade in der aktuellen Situation, in der Kinder und Jugendliche ohnehin besonders verletzlich sind, könne Cybermobbing als Katalysator für Ängste, Schlafstörungen, Essstörungen und Depressionen wirken. Was erschwerend hinzukommt: Online ist ein klärendes Gespräch oft nur schwer möglich. Und wenn der Konflikt nicht gelöst wird, kann das zu einer Spirale an negativen Gedanken führen, aus der Betroffene gar nicht mehr herauskommen. Zuletzt waren auch die Möglichkeiten, sich in der Freizeit abzulenken, beschränkt. Deshalb versuchten wohl auch viele, ihre Sorgen mit Suchtmitteln zu betäuben. Bei der deutschen Befragung kam heraus, dass jeder fünfte Betroffene aus Verzweiflung bereits zu Alkohol oder Tabletten gegriffen hat.

Jemanden einweihen

Für Lehrerinnen und Lehrer sei es gerade in den vergangenen Monaten schwierig gewesen, bei Mobbing einzugreifen, sagt Weberhofer. Schließlich hat der Unterricht nur sehr unregelmäßig stattgefunden, teilweise auch nur auf Distanz. Daher bekomme kaum jemand mit, wenn eine Schülerin oder ein Schüler Opfer wird. Gefragt seien also vor allem die Eltern, die aufmerksam und feinfühlig sein müssten, um zu erkennen, "dass da etwas nicht stimmt mit meinem Kind", sagt die Medienpädagogin. Sobald sie bemerken, dass sich die Tochter oder der Sohn zurückzieht, schlecht schläft oder kaum noch isst, sei es wichtig, das Gespräch zu suchen. Bei Jugendlichen könne auch eine Vertrauensperson zurate gezogen werden.

Opfern von Mobbing empfiehlt die Expertin, möglichst schnell jemanden in sein Problem einzuweihen. Das können die eigenen Eltern oder ein anderer Erwachsener sein, zu dem man eine gute Gesprächsbasis hat. "Viele sind zu paralysiert, um die Situation allein zu bewältigen." Manchmal sei die Unterstützung eines Psychologen oder einer Psychologin hilfreich. Auch diverse Hilfseinrichtungen stehen den Betroffenen zur Seite.

Der gute Rat: Screenshots von den Beleidigungen machen, Chatverläufe abspeichern – sie könnten später wichtige Beweise sein. Denn seit Anfang 2016 gibt es einen sogenannten Cybermobbing-Paragrafen, der digitale Belästigungen strafbar macht. Bei einer Verurteilung drohen Freiheitsstrafen von bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe bis zu 720 Tagessätzen. Eine Anzeige sieht Weberhofer jedoch nur als allerletzte Möglichkeit.

Regeln für das Miteinander

Für die ersten Wochen des normalen Schulbetriebs hat sie übrigens keine allzu gute Prognose: "Ich befürchte, dass Mobbing ein noch viel größeres Problem werden wird. Die Kinder sind völlig draußen aus der sozialen Klassengemeinschaft, aus dem sozialen Miteinander." Wie vielfach berichtet, sind viele Schülerinnen und Schüler psychisch stark belastet, und das könne sie zu Tätern werden lassen. "Man sollte die Täter deshalb nicht vorverurteilen, sondern genauer hinschauen, ob sie nicht vielleicht auch Hilfe brauchen."

Weberhofers Appell an die Pädagoginnen und Pädagogen in den Schulen: "Der Stoff sollte jetzt nicht erste Priorität sein, sondern die Gemeinschaft." Soziale Fähigkeiten müssten nach Monaten ohne viele Kontakte erst wieder verstärkt gefördert werden. "Viele Kinder sind nach so langer Zeit im Distance-Learning den Umgang im Klassenverband nicht mehr gewohnt." Eine einfache Möglichkeit sei, dass Lehrer und Schüler Regeln für den Umgang miteinander formulieren, für das reale, aber auch für das virtuelle Leben. "Wenn wir alle wertschätzend miteinander umgehen, wäre das die beste Prävention für jede Form von Mobbing."

Mittelfristig brauche es ab der Volksschule ein Fach, in dem Medienbildung gelehrt wird, findet Weberhofer. "Da könnte man mit den Kindern erarbeiten, welche Gefahren und Risiken im Internet lauern." Sie könnten auch in Urheberrecht, Quellenkompetenz und Fake-News unterrichtet werden – aber auch, wie sie sich gegen Mobbing zur Wehr setzen. Themen gäbe es auf jeden Fall mehr als genug, ist sich die Medienpädagogin sicher. (Lisa Breit, 14.5.2021)