Kamala Harris ist die erste schwarze Vizepräsidentin der USA – ein Meilenstein. Offen ist aber, was sie nun daraus macht.

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"Ich mag zwar die erste Frau in diesem Amt sein", sagte Kamala Harris vergangenes Jahr in ihrer Siegesrede über den historischen Moment, "ich werde aber nicht die letzte gewesen sein." Denn jedes kleine Mädchen, das ihr zusehe, betrachte die USA nun als "Land der Möglichkeiten", zeigte sich die neue US-Vizepräsidentin überzeugt. Aber ist die Sache wirklich so einfach? Reicht es, wenn mit Harris nun eine schwarze Frau in einer besonders mächtigen Position ist, um anderen später einen Aufstieg zu ermöglichen? Und: Hilft es dabei, das hier und jetzt für jene zu verbessern, denen die Gesellschaft bisher gleiche Chancen verwehrt?

Tatsächlich ist festzuhalten: Es wurde mit Harris' Wahl auf symbolischer Ebene viel für Frauen und Menschen mit Migrationsgeschichte erreicht. Die gläserne Decke bekam einen weiteren Sprung. Das verändert das Bewusstsein und schafft neue Vorbilder. Die Vorbildwirkung für Mädchen, zu zeigen, dass es möglich ist: Das ist nicht zu unterschätzen.

Die USA wurden acht Jahre lang von einem schwarzen US-Präsidenten regiert – ein Meilenstein, was das höchste Amt der USA und womöglich auf der ganzen Weltbühne betrifft. Rassistische Gewalt durch den Staat, besonders durch die Polizei, gab es danach weiterhin. Sie führte 2020 zu einer großen Protestwelle.

In Deutschland wachsen Mädchen auf, die in ihrem jungen Leben bisher nur eine Kanzlerin erlebt haben. Doch der Frauenanteil in der CDU sank unter Merkels Parteivorsitz stetig, sowohl im Kabinett als auch in der Partei.

"Lean in" – ohne Veränderung der Strukturen

"Lean in" lautete 2013 die Aufforderung eines Bestsellers der Facebook-Spitzenmanagerin Sheryl Sandberg. Arbeitet hart, verkauft euch gut, mischt ganz vorne mit – macht es wie die Männer! Karriereerfolge durch Zähigkeit, das sei der Weg zur Geschlechtergleichheit, so Sandberg. Damit steht sie Patin für eine Form von Elitenfeminismus, der Frauen dazu aufruft, es zu schaffen – trotz frauenfeindlicher Strukturen. Und damit: ohne diese grundlegend zu ändern.

Ein anderer Feminismus fordert allerdings, diese Strukturen zu bekämpfen, statt sich bestmöglich dem männlichen System anzupassen. "Sandberg und ihresgleichen begreifen den Feminismus als Magd des Kapitalismus." So drastisch formulieren es die Autorinnen Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser in ihrem Manifest "Feminismus für die 99 %". Damit gemeint ist: Eine Welt, in der sich Männer und Frauen gleichberechtigt die Aufgabe aufteilen, Ausbeutung am Arbeitsplatz und gesellschaftliche Unterdrückung zu verwalten – das sei eine fragwürdige Version von Chancengleichheit. Es "trotzdem" zu schaffen habe mit frauenpolitischem Fortschritt nichts zu tun. Denn so würde am System nichts geändert, auch alle Nachfolgenden müssten es "trotzdem" schaffen – gegen die weiter bestehenden Widerstände und gegen unfaire Hindernisse.

Sanders als feministische Wahl

Und so empfahl eine der Autorinnen, Nancy Fraser, während der demokratischen Vorwahlen um die Präsidentschaft im Vorjahr dann auch den damals 78-jährigen weißen Mann Bernie Sanders. Er sei ganz klar die feministische Wahl. Dies, obwohl damals auch noch sehr viele Frauen im Rennen waren. Denn ihm gehe es tatsächlich darum, dass sich die Situation für 99 Prozent der Frauen verbessere und nicht nur für jene eine Frau, die vielleicht der gläsernen Decke einen Sprung verschafft, so Fraser.

Fraser argumentierte das in ihrem Kommentar im linken "Jacobin"-Magazin, den sie gemeinsam mit der Journalistin Liza Featherstone verfasst hatte, vor allem ökonomisch: Sanders unterstütze Mindesteinkommen, die vor allem vielen Frauen ein sicheres und unabhängiges Leben ermöglichen würden, weil diese überdurchschnittlich oft im Niedriglohnsektor arbeiten. Sein Programm zur Förderung von Gewerkschaften und einer flächendeckenden staatlichen Krankenversicherung würden diesen ebenfalls helfen – und auch etwa Forderungen nach der Verfügbarkeit von Familienplanung und Schwangerschaftsabbrüchen Nachdruck verleihen. Denn beides müsse man sich, auch dann, wenn es erlaubt und verfügbar sei, schließlich sonst erst einmal leisten können. Außerdem habe Sanders das glaubhafteste System für Kinderbetreuung präsentiert. Harris etwa, so die Kritik, sei von ursprünglich linken Positionen im Wahlkampf zunehmend abgerückt: Lean in.

Neue Perspektive

Aber natürlich ändert sich auch der Inhalt der Politik, abhängig davon, wer sie macht: Mit einer schwarzen Frau an der Spitze fließen automatisch andere Erfahrungen und neue Perspektiven ein, scheinbar Selbstverständliches wird als falsch erkannt – oder zumindest als nicht allgemeingültig. Denn auch wenn das Leben der meisten nichtweißen Spitzenpolitikerinnen völlig anders verläuft als das von Arbeiterinnen, teilen sie bestimmte Erfahrungen: die des Marginalisiert- und Frau-Seins und das damit verbundene Erleben von Sexismus und Rassismus.

Frauen an der Spitze können neue Blickwinkel und andere Prioritäten für bestimmte Themen liefern, schwarze Frauen erst recht. Dabei geht es auch um Themen, deren Existenz Nichtbetroffenen oft nicht einmal bewusst ist. Wer die Probleme nicht kennt, kann sie auch nicht aufgreifen. Grundlegende Änderungen sind aber nur möglich, wenn die Chance zum Gestalten auch nachfolgende Frauen bekommen. Ob das so ist, darüber bestimmt die Politik von Harris und Co. (Noura Maan, Manuel Escher, 4.3.2021)