Mit einer nationalen Strategie will die Regierung dem steigenden Antisemitismus entgegentreten. Darüber und über das Gesetzespaket, mit dem der Hass im Netz ab 1. April bekämpft werden soll, hat Markus Sulzbacher mit Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) gesprochen.

STANDARD: Während die Regierung ihre Nationale Strategie gegen Antisemitismus umzusetzen versucht, tauchen bei Corona-Demonstrationen Anhänger des antisemitischen QAnon-Kults auf, tragen manche Teilnehmer sogenannte Judensterne oder Schilder mit der Aufschrift "Kurz ist ein Soros-Jüngling". Wie geht es Ihnen damit?

Edtstadler: Das ist etwas, das mir große Sorgen bereitet. Man muss schauen, wem man eine Bühne bietet, mit wem man zu einer Demonstration geht und wer neben einem geht. Und wenn stillschweigend hingenommen wird, dass selbstgebastelte Judensterne getragen werden oder Plakate mit "Impfen macht frei" gezeigt werden, dann ist das eine gefährliche Tendenz, der man entgegenwirken muss.

STANDARD: Vielen Demo-Teilnehmern ist das egal. Sie haben kein Problem damit, wenn Neonazis untersagte Umzüge anführen oder wenn mit antisemitischen Codes hausiert wird?

Edtstadler: Die Pandemie bringt viele Menschen verständlicherweise an ihre Belastungsgrenzen. Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass die Menschen mittlerweile ein Jahr in einer Ausnahmesituation sind. Homeschooling, Homeoffice, viel Zeit auf kleinem Raum zu verbringen, ja, das geht an die Substanz. Aber man darf nicht vergessen, dass es auch Menschen gibt, die diesen Frust gezielt ausnutzen wollen, um Feindbilder zu schüren.

STANDARD: Sind das nicht Zeichen dafür, dass die Regierung zu wenig gegen Antisemitismus unternimmt?

Edtstadler: Man muss vor allem eines machen: sensibilisieren. Darüber reden, schreiben oder berichten hilft. Antisemitismus zu bekämpfen ist ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag, den wir mit unserer Nationalen Strategie umsetzen wollen. Und in Bezug auf die Demos möchte ich klarstellen, dass keine unlauteren Absichten dahinterstecken, wenn Demonstrationen aus gesundheitlichen Gründen nicht zugelassen werden. Das ist kein Einschränken der Grund- und Freiheitsrechte, sondern in jedem spezifischen Fall eine sensible Abwägungsfrage.

Bei einer Corona-Demo in Wien wurde Kanzler Sebastian Kurz als "Soros-Jüngling" bezeichnet.
Foto: Markus Sulzbacher

STANDARD: Die Nationale Strategie gegen Antisemitismus besteht aus 38 Punkten. Welche sind die wichtigsten?

Edtstadler: Ich denke, wir haben schon vieles auf den Weg gebracht, aber man darf nie aufhören, dagegen aufzutreten. Für mich hat die Sicherheit jüdischer Einrichtungen und Personen Priorität. Wir haben bei dem Anschlag in Halle gesehen, wie katastrophal es enden kann. Zudem ist mir die Sensibilisierung, insbesondere junger Menschen, für das Thema wichtig. Es sollte jeder einmal in Mauthausen gewesen sein. Nicht nur Schüler, sondern auch Lehrlinge, Zivildiener und Grundwehrdiener sollten einmal die KZ-Gedenkstätte besucht haben. Mit Integrationsmaßnahmen muss der importierte Antisemitismus bekämpft werden. Das ist sicher die zweite Säule, die ganz wesentlich ist. Und bei der dritten geht es mir vor allem darum, dass antisemitische Vorfälle oder Attacken nicht sanktionslos bleiben dürfen.

Wenn mitten in Wien ein Rabbiner von einer Frau mit einem Messer angegriffen wird, darf das nicht unkommentiert bleiben. Das muss berichtet werden, das muss auch konsequent verfolgt werden. Ich habe unmittelbar danach mit dem Rabbiner telefoniert, und dieser hat zu mir gesagt, dass das Schlimmste nicht der Angriff selbst war. Das Schlimmste für ihn war, dass Menschen daneben gestanden sind und nicht einer die Polizei oder die Rettung verständigt hätte. Das hat er selbst gemacht. Oder wenn, wie ein anderer Vorfall gezeigt hat, ein Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde in Innsbruck bei einer vollen Straßenbahnhaltestelle als "Judensau" beschimpft wird und niemand von den Umstehenden reagiert. Das ist erschreckend und inakzeptabel.

Karoline Edtstadler (ÖVP) ist seit 2020 Bundesministerin für EU und Verfassung im Bundeskanzleramt. Zuvor war sie Staatssekretärin im Innenministerium.

STANDARD: Warum ist Ihnen persönlich der Kampf gegen Judenhass wichtig?

Edtstadler: Ich fühle mich seit meiner Schulzeit dem Kampf gegen den Antisemitismus verpflichtet. Aus einer inneren Haltung heraus. Und ich möchte der Vision einer Welt, eines Europas, eines Österreichs frei von Antisemitismus ein Stück weit näher kommen. Das erfordert ein ständiges Daran-Arbeiten, Aufzeigen, Aufklären, Sensibilisieren einerseits, aber auch klare Reaktionen auf Fehlverhalten und eine Anpassung der Gesetze andererseits. Das betrifft das Verbotsgesetz, das Abzeichengesetz, das Symbolegesetz oder das Verbot mit dem Handel von NS-Devotionalien. Und ich sage nicht ganz ohne Stolz: Das österreichisch-jüdische Kulturerbegesetz wurde einstimmig von allen Parteien beschlossen. Mit diesem werden die Zuwendungen des Bundes an die israelitische Religionsgesellschaft verdreifacht. Damit soll einerseits die Gewährleistung der Sicherheit unterstützt und anderseits Projekte für ein sichtbares jüdisches Leben ermöglicht werden.

STANDARD: Mit Stimmen der FPÖ, von der immer wieder mal antisemitische Codes und Aussagen zu vernehmen sind.

Edtstadler: Das würden sie selbst heftig in Abrede stellen. Meine Haltung ist klar: Solche Codes sind absolut widerwärtig. Ich habe es aber als gutes Zeichen empfunden, dass die Strategie einstimmig beschlossen wurde. Das ist ein klares Bekenntnis.

STANDARD: Stimmt, seitens der FPÖ würde nie jemand sagen, dass etwa antisemitische Tiraden gegen George Soros antisemitisch wären.

Edtstadler: Natürlich muss man genau beobachten, welche Codes verwendet werden. Und auf diese entsprechend reagieren.

STANDARD: Wann ist die Strategie in Österreich erfolgreich?

Edtstadler: Erfolg ist für mich auch im Kleinen messbar. Etwa wenn ich Zuschriften von Schülern oder Lehrern bekomme, wie das auch oft in der Vergangenheit war, die mir schreiben, dass sie Mauthausen besucht haben und darüber Diskussionen geführt haben. Oder wenn zum Beispiel der erste Bericht kommt, in dem veröffentlich wird, wie viele antisemitische Postings nach dem neuen Kommunikationsplattformengesetz gelöscht worden sind. Jedes einzelne Hassposting, das nicht verbreitet wird, das rasch gelöscht wird, ist für mich ein Erfolg.

STANDARD: Und wenn antisemitische Vorfälle zurückgehen.

Edtstadler: Selbstverständlich. Das ist das Ziel aller Bemühungen.

STANDARD: Sie haben den sogenannten "importierten Antisemitismus" angesprochen. Was verstehen Sie darunter, und wie soll der bekämpft werden?

Edtstadler: Es ist ein Faktum, dass in Teilen der muslimischen Welt Vorurteile gegen Juden geschürt werden, oft in Zusammenhang mit Israelhass. Und das ist auch gemeint mit importiertem Antisemitismus. Ich kenne Berichte, in denen Muslime, die erst wenige Jahre in Österreich leben, Mauthausen besucht haben und danach sagten, sie seien dankbar, dass sie diese Möglichkeit hatten. Sie hatten nämlich tatsächlich geglaubt, dass es das alles nicht gegeben hat und die Shoah eine Lüge wäre.

STANDARD: Was erwarten Sie sich vom Gesetzespaket gegen Hass im Netz?

Edtstadler: In Österreich wird das Gesetzespaket gegen Hass im Netz mit 1. April wirksam, bis dahin haben die Anbieter Zeit ihre Onlineplattformen gesetzeskonform zu gestalten, dann müssen sie rechtswidrige, strafrechtswidrige Inhalte löschen. Darunter fallen auch Delikte nach dem Verbotsgesetz. Um den Antisemitismus zu bekämpfen, setze ich mich auf EU-Ebene zudem für ein europäisches Verbotsgesetz ein. Ich will, dass auch in Spanien oder in den Niederlanden diese Inhalte gelöscht werden müssen. Diesbezüglich habe ich auch schon Gespräche mit dem zuständigen EU-Kommissar geführt.

STANDARD: Ungarn oder Polen werden da wohl kaum mitgehen.

Edtstadler: Ich glaube, es kann sich keiner der Verantwortung vor dem Hintergrund des steigenden Antisemitismus entziehen.

STANDARD: Wie haben Facebook und Co auf das Gesetzespaket reagiert?

Edtstadler: Alle Plattformbetreiber haben mir bei Arbeitsgesprächen bestätigt, dass sie ihre soziale Verantwortung auch wahrnehmen wollen, und die Rückmeldungen waren vielfach: Das tun wir bereits. Ein Punkt, der für sie schwierig war, sind die Berichtspflichten. Diese sind aber wichtig für die Politik, denn damit sieht man, wie das Gesetz in der Praxis angewendet wird. Ziel ist der Schutz der Meinungsfreiheit. Was wir nicht zulassen dürfen, ist, dass ein Unternehmen im Silicon Valley entscheidet, was gepostet werden darf. Ich will Donald Trump nicht verteidigen, aber in Wahrheit ist es beunruhigend, dass die Vorstandsetagen von großen Internetkonzernen entscheiden, wer seine Meinung kundtun darf und wer vom Diskurs ausgeschlossen wird.

STANDARD: Wie soll das Löschen funktionieren?

Edtstadler: Ab April müssen die Plattformen binnen 24 Stunden löschen, wenn ihnen Postings gemeldet werden und es für Laien erkennbar ist, dass es sich zum Beispiel um eine Drohung, eine Nötigung, eine Verhetzung oder einen Tatbestand nach dem Verbotsgesetz handelt. Und wenn man es näher prüfen muss, dann haben die Plattformen sieben Tage Zeit. Ich gehe davon aus, dass das funktionieren wird. Wer in Österreich wirtschaftet, muss die österreichischen Gesetze einhalten.

Tiktok und Telegram sind ein noch zu lösendes Problem, sagt die Ministerin.
Foto: Markus Sulzbacher

STANDARD: Haben Sie auch mit Tiktok und Telegram darüber gesprochen?

Edtstadler: Die waren nicht dabei. Es hat ein Gesprächsangebot an Tiktok gegeben, das letztlich nicht angenommen wurde.

STANDARD: Dabei hat Tiktok Facebook bei den Jugendlichen bereits abgelöst, und Telegram ist der Ausweichkanal für Rechtsextreme oder Verschwörungserzähler.

Edtstadler: Das ist ein noch zu lösendes Problem. Telegram ist ein Messenger-Dienst und kein soziales Medium. Wie Whatsapp ist es keine Plattform nach dieser Definition. Aber diese Diskussion ist sicher noch nicht beendet.

STANDARD: Sie hätten also nichts dagegen, wenn Trump weiterhin auf Twitter Blödsinn verbreitet?

Edtstadler: Man muss hinter die Kulissen blicken. Jetzt Trump zu löschen, wo er nicht mehr Präsident ist, ist einfach, und man findet wenige, die das kritisieren. Aber Twitter, also ein Internetkonzern, hat damit allein in der Hand, zu entscheiden, wer seine Meinung kundtun darf und wer nicht. Das finde ich höchst bedenklich. Gerade zumal Twitter kein Nischenprodukt, sondern zu einer entscheidenden Kraft in der politischen Kommunikation geworden ist.

STANDARD: Aber es hat sich gezeigt, dass durch die Sperre von Trump weniger Blödsinn verbreitet wird. Ich erinnere nur an die Bleiche, die gegen Corona helfen soll. Und die Sperren auf verschiedenen Kanälen des Identitären-Sprechers Martin Sellner haben dessen Aktionsradius massiv eingeschränkt. Trump und Sellner sollen also auf Twitter weiterhin Blödsinn verbreiten können?

Edtstadler: Das stimmt. Es ist verführerisch. Super, wenn extremistisches und rassistisches Gedankengut nicht unter die Leute kommt. Aber worum geht es uns? Wollen wir wirklich, dass Unternehmen allein entscheiden, welche Personen etwas sagen dürfen und welche nicht? Ich halte einen demokratisch beschlossenen Rahmen mit gleichen, transparenten Richtlinien für alle für den besseren Weg. (Markus Sulzbacher, 4.3.2021)