Klassenkonfikt an der Theke: Daniel Brühl und Peter Kurth in "Nebenan".

Foto: Berlinale

Zugegeben, in Berlin würde man die schummrigen Eckkneipen, die mit einem leckeren "Eisbein" um ihre Kundschaft buhlen, wohl meiden. Sie haben die Zeiten gleichmütig überdauert, ohne viel an Charme zuzulegen. Manche Orte gehören eben "den anderen". "Zur Brust" heißt einer davon, der Name ist natürlich gut erfunden: Die Kneipe ist der zentrale Schauplatz von Nebenan, dem Regiedebüt von Daniel Brühl nach einem Drehbuch von Daniel Kehlmann.

Der Film ist ein geeigneter Ausgangspunkt für den Online-Filmmarkt, der das Festival Berlinale in diesem Frühjahr ersetzt – ein physischer Teil soll im Juni folgen. Als Berlin-Film, der Klassengefälle unter der Lupe eines Wirtshausfilms betrachtet, liefert er fehlendes Lokalkolorit heim auf die Couch. Brühl ist ja nicht nur Filmstar, sondern auch Betreiber einer Tapas-Bar in Berlin: Er ist einer von denen, die es in die Stadt verschlagen hat. In Nebenan trifft sein Alter Ego Daniel an der Theke auf einen, der schon immer da war und dies den blasierten Fatzke auch spüren lassen will.

Spiel mit Intrigen

Nebenan ist einer von vier deutschen Filmen im Wettbewerb und würde auf der Berlinale unter normalen Umständen den Platz eines Publikumsfilms besetzen. Als Äquivalent eines "well-made play" für das Kino, das gewiss auch irgendwann auf Bühnen landen wird, verwebt es zwei sozial gegensätzliche Figuren in ein clever konstruiertes Spiel aus Intrigen.

Kurzum, es geht um den Neid der Zurückgebliebenen auf jene, für die ein Casting die größte Herausforderung im Leben ist. Der bierbäuchige Stammgast, den Peter Kurth schnoddrig und auch gefährlich selbstsicher verkörpert, weiß mehr über den Schauspieler, als diesem lieb sein kann. Und je mehr er über dessen Familie auspackt, desto größer der Schaden für Daniel. Dass Kehlmann das Skript eng an die Starpersona von Brühl angelehnt hat, macht den Film zwar noch zu keinem Schlüsselwerk über die Zwänge des Ruhms. Dafür spielt das Drama doch zu routiniert seine Spannungsmuster durch und deutet weltanschauliche Abgründe nur an. Doch Brühl beweist Selbstironie, und der Film hat immerhin eine maliziöse Freude daran, an der Oberfläche von Erfolgsmodellen zu kratzen.

Bösartig, bissig

Weitaus bösartiger und kompromissloser fällt das Attest aus, das der rumänische Filmemacher Radu Jude seinen Landsleuten ausstellt. Bad Luck Banging or Loony Porn, der Titel sagt es schon, erzählt davon, wie ein geleakter Privatporno das Leben einer Schullehrerin auf den Kopf stellt. Das Machwerk steht in seiner expliziten Fröhlichkeit samt Schunkelmusik am Beginn des Films. Doch Jude, einer der formal wendigsten europäischen Regisseure, folgt keiner klaren Logik der Eskalation, sondern entwirft ein Triptychon, mit dem er die Verrohung und moralische Verdorbenheit des Menschen in einem universelleren Sinn betrachtet.

Cine maldito

Judes Provokation kennt dabei erfreulicherweise kaum Grenzen. Der erste Teil gleicht einem unter Corona-Bedingungen gedrehten Gang durch Bukarest, bei dem die Lehrerin die Unflätigkeit im Alltag durchlebt. Danach wechselt Jude im Mittelstück in eine Art Lexikon aus Found-Footage-Bildern, das die politischen Verwerfungen des Landes genauso keck anvisiert wie den Opportunismus der orthodoxen Kirche oder die Scheinheiligkeit im Umgang mit Sexualität – "Blowjob", heißt es einmal, sei das Wort, das am öftesten gegoogelt wird.

Der Schlussteil, der eine Aussprache in der Schule mit den entrüsteten Eltern zeigt, ist im Stile einer Volkskomödie gehalten, in dem sich dann Ressentiments und Zorn ungehemmt entladen. Die Ordnung des zivilen Miteinanders, demonstriert Jude mit satirischer Wucht, bricht in einer Gesellschaft, in der sich jeder selbst am nächsten steht, rasch ein. Auf jedes vernünftige Argument in der Runde lacht ein anderer mit dem schrillen Ruf des Woody Woodpecker.

Neue Behausung

Mit rund einem Dutzend Filmen, die einem pro Tag zur Verfügung stehen, ist man wie auf einem echten Festival auf Trab. Die Sektion Encounters, die 2020 neu eingeführt wurde, legt den Fokus auf nachrückende Talente. Dort gab es bereits Das Mädchen und die Spinne der Schweizer Ramon und Silvan Zürcher zu sehen, die nach Das merkwürdige Kätzchen (2013) erneut demonstrieren, dass sie sehr eigensinnig, vor allem mit großer Übersicht auf engstem Feld inszenieren.

Ein Moment der Ruhe im Aufbruch: Auf allerengstem Raum erzählt "Das Mädchen und die Spinne" von Ramon und Silvan Zürcher von den Veränderungen, die auf die Bewohner einer WG warten.
Foto: Berlinale

Die Handlung erstreckt sich über zwei Tage und eine mit fantastischen Motiven durchsetzte Nacht. Eine junge Frau zieht aus einer WG aus, das genügt hier schon: Mit dem Ein- und Auspacken von Möbeln und Objekten, dem Kommen und Gehen von Figuren, mit Blicken und dem Aneinander-Anstreifen, mit Allianzen und Entfremdungsmomenten wird hoch raffiniert eine Geschichte des Übergangs erzählt.

Einzig Mara (Henriette Confurius) bleibt mit ihrem leicht entrückten Lächeln ein Ruhepol in dem beweglichen Miteinander. Die Rätselhaftigkeit, die die Zürchers im menschlichen Verhaltensspiel aufspüren, erinnert an den Nouvelle-Vague-Meister Jacques Rivette. Ihr Film zeigt, wie das Kino immer ein Stück mit- und weiterwandert – in welche Behausung auch immer. (Dominik Kamalzadeh, 2.3.2021)