Ein Präservativ lieferte interessante Spuren im Vergewaltigungsprozess gegen einen 20-Jährigen.

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Wien – "Frau schreit um Hilfe in Wohnung", hörte die Besatzung des Streifenwagens Elf-Sieben am späten Abend des 17. Oktober als Meldung der Notrufzentrale. Da Inspektor T. mit seinem Kollegen gerade nahe der angegebenen Adresse in Wien-Margareten war, übernahmen sie den Einsatz in dem Hostel. Was sie dort sahen, brachte den 20-Jährigen Mohammad H. mit einer Anklage wegen versuchter Vergewaltigung, versuchter schwerer Körperverletzung und gefährlicher Drohung vor ein Schöffengericht unter Vorsitz von Martina Hahn.

"Wir haben zunächst den Meldungsleger aufgesucht. Der hat gesagt, er hatte den Eindruck, die Frau kämpfe um ihr Leben. Er hat sich aber nicht getraut, selbst nachzuschauen", erinnert sich Inspektor T. vor Gericht als Zeuge. Die beiden Polizisten gingen nach oben zum fraglichen Appartement. "Durch die Tür war nur so eine Art Wimmern zu hören", schildert T. weiter. Als die Beamten klopften, ertönten wieder laute Schreie einer Frau.

Angeklagter saß rittlings auf Oberkörper von junger Frau

"Wir waren in einem Laubengang. Neben der Tür waren zwei Fenster. Beim ersten waren die Vorhänge zugezogen, das zweite war offen, und ich konnte hineinsehen", setzt T. seine Aussage fort. Er sah den Angeklagten mit nacktem Oberkörper rittlings auf dem ebenso unbekleideten Oberkörper der 19 Jahre alten E. sitzen. "Mir ist es so vorgekommen, als ob wir in letzter Sekunde gekommen wären", gibt T., der damals durch das offene Fenster stieg und den Angeklagten fixierte, nun zu Protokoll.

Die Frau sei außer sich gewesen, habe Würgemale am Hals gehabt und sehr heftig geatmet. Vor Ort soll sie gesagt haben: "Er wollte Sex mit mir, ich wollte nicht, dann hat er mich geschlagen." T. erinnert sich, der an der Wand fixierte H. habe zu ihm gesagt: "Sie ist meine Freundin und hatte einen Anfall." Und dabei, so der Zeuge, "hämisch gegrinst. Mir ist das seltsam vorgekommen. Wenn sie meine Freundin ist, würde ich mir doch Sorgen machen und nicht grinsen."

Zerbrochener Teller, Erbrochenes, benutztes Kondom

Was dem Beamten auch noch auffiel – das Appartement war extrem unordentlich: Ein zerbrochener Teller und Essen lagen neben einem Tisch auf dem Boden, auf und neben dem Bett war Erbrochenes wahrzunehmen, ebenso im Badezimmer. Ein benutztes Kondom lag unter dem Tisch, auf dem auch eine leere Whiskeyflasche stand. Die jungen Polizisten gingen mustergültig vor und sicherten alle Spuren. Frau E. erzählte damals vor Ort noch, H. sei eifersüchtig gewesen, habe gedroht, ihr "Gesicht zu zerstören, damit sich kein anderer Mann mehr für sie interessiere", sowie sie und sich zu töten. Klingt also alles nach einem klaren Fall. Wenn da nicht die Version des Angeklagten und einige verblüffende DNA-Spuren wären.

H.s Verteidigerin Charlotte Böhm kündigt an, dass ihr Mandant sich nur der fahrlässigen leichten Körperverletzung schuldig bekennen werde. Er könne nicht ausschließen, dass er E. am Hals gepackt habe, aber nur beim Bemühen, sie "ruhigzustellen". Eine Verletzungsabsicht habe nie bestanden, erst recht keine zur Vergewaltigung.

Vier Jahre lang On-off-Beziehung

Vorsitzende Hahn fragt den Angeklagten zunächst nach seinem Vorleben. Man erfährt, dass er mit seinen Eltern im Alter von sechs Jahren aus seiner Heimat Afghanistan in den Iran übersiedelte. 2014 schlug er sich auf eigene Faust nach Österreich durch. Er kam in einer Betreuungseinrichtung in einem anderen Bundesland unter, wo er auch seine Landsfrau E. kennenlernte. Gut vier Jahre seien sie in einer On-off-Beziehung gewesen. "Sie hatte Probleme mit ihrem Vater, der sie mit einem Cousin verheiraten wollte", sagt er. 2017 erhielt H. drei Monate bedingt für ein Suchtmitteldelikt mit Cannabis.

Anfang 2020 zog die junge Frau nach Wien, er folgte zwei Wochen später und wohnte mit einem weiteren Afghanen in einem Zimmer. "Im Februar hat sie einfach Schluss gemacht und gesagt, sie will einen anderen Jungen heiraten", erinnert sich der Angeklagte, der nur für rechtliche Begriffe die Dolmetscherin benötigt.

Väterliche Forderung für Heiratserlaubnis

Er akzeptierte seiner Darstellung nach die Trennung, tatsächlich habe einige Wochen später E. wieder den Kontakt gesucht. "Nach dreieinhalb Monaten wollte sie wieder Abstand." H. erfüllte ihr den Wunsch und wurde zum Wochenpendler in ein anderes Bundesland, wo E. ihn aber auch ein- oder zweimal besuchte. Irgendwann muss der Angeklagte auch mit E.s Vater gesprochen haben, denn der sagte ihm angeblich: "Wenn du mir genug Geld gibst, kannst Du meine Tochter heiraten."

H. sparte und fand sogar eine eigene Garçonnière, in die er ab November hätte ziehen können. Daher lud er E. am 17. Oktober in das Hostel ein, das sie bereits früher gemeinsam für etwas Privatsphäre genutzt hatten. "Es sollte eine Überraschung sein. Ich wollte wissen, ob sie mich auch heiraten will." Um 13 Uhr habe er eingecheckt, davor hatte er noch Essen besorgt. Und eine Flasche Whiskey, die er ab 13.30 Uhr zu leeren begann.

E. kam gegen 15 Uhr, trank zwei Gläser mit. H. kippte den Rest der Flasche allein. Zwischen 16.30 und 17 Uhr sei er dann vor Rausch eingeschlafen, erzählt er dem Gericht. "Fünf Minuten bevor die Polizei kam, bin ich aufgewacht", behauptet er. "Sie haben von 17 bis 22 Uhr geschlafen? Das ist aber ein langer Schlaf", ist Vorsitzende Hahn misstrauisch. "Ich war betrunken", kann H. dazu nur sagen.

Junge Frau soll außer sich gewesen sein

Als er aufwachte, sei E. am Tisch gesessen und habe geweint. "Ich bin aufgestanden, hatte Kopfweh und Magenschmerzen, und habe gefragt: 'Was ist los, Schatzi?' Darauf hat sie mit einer Handbewegung das ganze Geschirr vom Tisch gewischt und versucht, auf den Tisch zu steigen, um durch das Fenster zu klettern."

Der Angeklagte sagt, er sei völlig verwirrt gewesen, da er nicht wusste, was los ist. Da es bereits dunkel gewesen sei und er E. nicht allein heimgehen lassen wollte, habe er sie zurück ins Zimmer gezogen, wobei sie um Hilfe schrie. Sie sei völlig außer sich gewesen und habe ihn attackiert – tatsächlich hatte H. beim Eintreffen der Polizei Kratzwunden am Oberkörper und Rücken und eine an der Wange. "Ich habe versucht, sie zu beruhigen, dann war plötzlich die Polizei da", beendet der Angeklagte seine Geschichte.

Dass er sich, wie die Spuren zeigen, im Bett übergeben haben muss, weiß er angeblich nicht mehr. Die Ergebnisse der DNA-Analyse des Erbrochenen von Leintuch und Matratzenschoner sprechen eher nicht für das Etablissement. Von drei Proben ergab eine Spuren von H., E. und einer unbekannten Person. Zwei weitere jeweils nur vom Angeklagten beziehungsweise der jungen Frau, dafür aber Genmaterial von zwei unbekannten Personen – ganz offensichtlich früheren Gästen.

Ungewöhnliche DNA-Spuren auf Präservativ

Noch seltsamere Spuren fanden sich auf dem sichergestellten Präservativ. Der Angeklagte beteuert, dieses nicht genutzt zu haben. Die Sachverständige stellte tatsächlich kein Sperma fest und H.s Erbgut nur auf einer Seite – DNA von E. allerdings auf Innen- und Außenseite des Verhütungsmittels. H. kann sich das nur damit erklären, dass E. versucht haben muss, ihm das Kondom überzuziehen, als er de facto bewusstlos gewesen sei. Er wisse nämlich auch nicht, wer ihn entkleidet habe, ebenso wenig, warum E. beim Eintreffen der Exekutive weder Bluse noch BH anhatte.

Die Aussage von E. findet auf Antrag der Privatbeteiligtenvertreterin unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Daher kann man nur rekonstruieren, wie E.s Version der Geschichte lautet. Sicher ist, dass sie schon bei der ersten formellen Zeugeneinvernahme durch die Polizei am 18. Oktober nicht mehr von einer versuchten Vergewaltigung gesprochen hat. Die Drohungen bestätigte sie damals aber ebenso wie das Würgen, auch bei einer weiteren Aussage im November.

Widersprüchliche Angaben der Zeugin

Bei der kontradiktorischen, auf Video aufgezeichneten Einvernahme durch das Gericht schwächte E. die Vorwürfe dann schon deutlich ab: Sie könne sich nicht mehr erinnern, was eigentlich passiert sei. Und: Sie sei "ganz erstaunt, dass aus so einer kleinen Sache so eine große gemacht" werde. Wegen dieser Widersprüche muss die 19-Jährige nun noch einmal persönlich als Zeugin erscheinen. Ungewöhnlich ist, dass ihre Vertreterin bekanntgibt, E. könne auch in Anwesenheit des Angeklagten aussagen und stelle keine Schmerzensgeldforderung.

Vor Gericht dürfte sie diesmal von einem "Flashback" gesprochen haben – die Situation in dem Hostel habe sie an einen Vergewaltigungsversuch durch eine andere Person erinnert, daher habe sie überreagiert. "Ich habe noch nie gesehen, wie ein Opfer einen Täter so verteidigt", fasst der Staatsanwalt in seinem Schlussplädoyer E.s Aussage zusammen. "Sie hat wahrscheinlich heute gelogen, damit er schneller wieder herauskommt", vermutet der Ankläger. An den Vergewaltigungsversuch scheint er selbst nicht mehr zu glauben, an die Drohungen und die versuchte schwere Körperverletzung schon.

Geld für die Mutter des Angeklagten

Verteidigerin Böhm fordert dagegen einen Freispruch im Zweifel für ihren Mandanten. "Er wollte sie wirklich nur ruhigstellen", ist sie überzeugt. Was ins Bild passen würde: E. hat die damals erwirkte einstweilige Verfügung gegen den Angeklagten zurückgezogen und schickt seiner Mutter immer wieder Geld. Ob E. auch gesagt hat, dass sie das Kondom bei H. anlegen wollte, bleibt für die Öffentlichkeit ein Geheimnis.

Vom Vergewaltigungsvorwurf spricht der Senat nach halbstündiger Beratung H. tatsächlich frei. Dafür erhält er für die anderen beiden Delikte gleich 24 Monate Haft, acht davon unbedingt. E. sei zwar "nicht die verlässlichste Zeugin", gibt die Vorsitzende in der Begründung an, das Gericht glaubte aber die "Beruhigungs"-Geschichte von H. noch weniger und deutet seine Kratzwunden als Abwehrverletzungen durch die junge Frau. Der Staatsanwalt bittet am Ende noch um eine Protokollabschrift, E. droht also eine Anzeige wegen falscher Zeugenaussage. (Michael Möseneder, 2.3.2021)