Der Schweizer Popautor Christian Kracht lässt in "Eurotrash" Gespenster über dem Zürichsee fliegen.

Foto: Noa Ben-Shalom

Schon relativ bald in diesem neuen Roman von Christian Kracht werden wir auf das Hauptmotiv von Eurotrash (Kiepenheuer & Witsch) stoßen: "Ich hatte immer gelebt in den Träumen, in den Gespenstern der Sprache."

Der Schweizer Schriftsteller begründete unter anderem gemeinsam mit dem deutschen Autor Benjamin von Stuckrad-Barre und drei weiteren heute längst vergessenen Autoren kurz vor dem Millennium die immer ein wenig affektiert klingende deutsche Popliteratur unter dem Motto Tristesse Royale neu. Im Vergleich mit der ÖVP und dem Team Türkis kann man sich das heute vorstellen wie junge Männer in schicken Anzügen im Gegensatz zu wuchtigen und möglicherweise erdnäheren Vorgängern wie Wolf-Dieter Brinkmann und Jörg Fauser. Drogen haben beide Fraktionen reichlich gefressen.

Heute sind die Alten weg vom Fenster. Die etwas jüngeren Kollegen pflegen nach ihrer Midlife-Crisis und all den Kalamitäten, die ein Leben im Berliner Schaulaufen-Lokal Grill Royal so mit sich bringt, gegenwärtig eine gediegene Form der sittlich-gefestigten Neuaufstellung. Wobei Christian Kracht mit seinen diversen während des letzten Vierteljahrhunderts vollzogenen Wandlungen in Romanform die mit Abstand interessanteste Person dieses ehemaligen Kreises darstellt.

Jetzt heißt es tapfer sein

Der einstige Erfolgsautor von Faserland und zuletzt etwa des dystopischen deutschen Kolonialromans Imperium bleibt allerdings nun auch in Eurotrash dem alten literarischen Konzept treu. Weil man nur schwerlich etwas erfinden kann, mit dem man persönlich nichts zu tun hat, segelt man hart am Wind der eigenen Biografie: "Denn alles, was nicht ins Bewusstsein steigt, kommt als Schicksal zurück."

Christian Kracht, der Sohn aus bestem Hause, besucht also 25 Jahre nach seinem literarischen Durchbruch Faserland wieder Zürich. Dort lebt seine Mutter in einem deprimierenden großbürgerlichen Sarkophag.

Zwischen Alkohol, Tabletten, Demenz, den Gemälden weniger wichtiger deutscher Expressionisten und Nazimaler und geschlossener Abteilung gilt: "Wie alles in unserer Familie tot und seelenlos." Gleich von Anfang an heißt es also für Autor und Leser, tapfer zu sein. Die Geister, die wir rufen, wenn wir Rückschau auf ein Leben mit Mitte 50 halten, sie drängen intensiver ins Gedächtnis vor, als man es sich als junger Mensch nicht einmal zu träumen wagte.

Blendender Stilist

Christian Kracht als blendender Stilist in der Schule von Thomas Mann, der uns in seinem Grab in Kilchberg am Zürichsee auch kurz begegnen wird, weiß um die Gefahr vorgetäuschter Wahrhaftigkeit. Sie würde schlichtweg langweilen. Selbst eitle Schauspieler spielen in ihren Autobiografien mit Fakt, Fiktion und Fake-News. Erinnerung ist eine Konstruktion der Gegenwart. Der Rest verursacht, wie es in Eurotrash heißt, einen "Einbruch in die Realität." Deshalb gilt es, Christian Kracht in diesem Roman als literarische Figur "Christian Kracht" zu lesen. Von Zürich aus, dieser engen Stadt, die prozentuell weltweit die meisten Seelenschlosser beheimatet, geht es als vermeintlich letzte gemeinsame Reise mit der kalten Mutter quer durch die Schweiz.

In Faserland war damals noch Party in Deutschland angesagt. In der Schweiz als Land der anämischen Stinkreichen geht es der Umgebung entsprechend deprimierender zu. In der familiären Vergangenheit, in der sich sozialdemokratische "Emporkömmlinge" und alte Nazischweine die Hand geben, der Vater eine große Nummer im Springer-Verlag war, die Mutter sich als kindliches Missbrauchsopfer ebenso outet wie Kracht selbst als elfjähriger Schüler in einem Internat in Kanada, dort verrinnt alles zu einem irren Amalgam.

Schaumschlägerei und Familiengeschichte, Flunkerei und persönliche Befindlichkeit sowie die Darstellung des Verhältnisses zwischen Mutter und Sohn werden eins. Die Mutter liest die Bunte, der Sohn Bataille: "Hast Du mal Bataille gelesen?" – "Warum?"

Man unterhält sich über die dunkle Familiengeschichte während des Dritten Reichs. Die Lebensorte Bangkok, Buenos Aires, Gstaad, die Cote d’Azur oder ein Chateau am Genfer See kommen ebenso vor, wie hier erfolglos eines versucht wird: Das absolut keine Rolle spielende Geld auf der Bank wird abgehoben, um es erfolglos den Armen zu schenken. The answer is blowin’ in the wind.

Wir haben es noch gar nicht erwähnt: Trotz all der depressiven Grundstimmung in dieser nah an gängigen Antidepressiva gebauten Rollenprosa und seiner teilweise furiosen Selbstbezichtigungen ist Eurotrash von Christian Kracht eines: Es ist ein durchaus witziges Buch. Es stimmt am Ende heiter. "Mama! Wann sehen wir uns denn wieder?" – "Bald." (Christian Schachinger, 4.3.2021)