Weil Wiens Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr (Neos) noch beim Corona-Impfstart der Wiener Pädagoginnen und Pädagogen festsitzt, hieß es für Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) am Mittwoch erst einmal warten. Nach rund 100 Tagen der ersten rot-pinken Koalition auf Landesebene ist Wiederkehr ganz in seine neue Rolle gewachsen. Kritik der Pinken, die man als Opposition an der Stadt und der SPÖ geäußert hat, scheint verflogen.

Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) und Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr (Neos) sind seit 100 Tagen ein Team.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Nach 100 Tagen im Amt: Hat sich die Stadt durch die Beteiligung der Neos verändert?

Ludwig: Wir haben im Regierungsprogramm über 1.000 Projekte definiert. Es geht um Zukunftsthemen und um den Umgang mit Corona. Und es gibt Maßnahmen gegen den Klimawandel: Am Mittwoch wurde die größte Photovoltaikanlage Österreichs in der Schafflerhofstraße eröffnet. Wir wollen Solarstadt Nummer eins werden und jährlich auf der Größe von 100 Fußballfeldern Photovoltaikanlagen errichten. Und wir haben uns viel in den Bereichen Transparenz, Wirtschaftsstandort und Bildung vorgenommen.

Wiederkehr: Wir werden bald die hundertste administrative Kraft an den Schulen vorstellen. Jede Schule soll noch in diesem Jahr eine Unterstützungskraft bekommen. Und wir haben es geschafft, Themen im Bereich Transparenz umzusetzen. Die Whistleblowing-Plattform der Stadt ist international Best Practice.

STANDARD: In Wien wird es künftig Schanigärten an mehr öffentlichen Plätzen geben. Werden sie bereits mit dem ersten Öffnungsschritt am 27. März aufsperren können?

"Ich finde, es ist besser, den Menschen draußen geregelte Möglichkeiten für Treffen zu bieten."

Ludwig: Wir merken, dass von der Bevölkerung nicht mehr alle Maßnahmen der Bundesregierung geschlossen mitgetragen werden. Ich finde, es ist besser, den Menschen draußen geregelte Möglichkeiten für Treffen zu bieten. Sonst gibt es das Risiko, dass sich Menschen ungeschützt und unreguliert treffen. Ich will mit der Wirtschaftskammer solche Plätze definieren. Aber man muss den Menschen auch deutlich sagen: Die Öffnung der Gastronomie ist auch abhängig vom weiteren Verlauf der Zahlen.

STANDARD: Zuletzt ist die Sieben-Tage-Inzidenz in Wien von einem Wert unter 100 auf aktuell über 180 angestiegen. Ist die Öffnung der Wiener Schanigärten am 27. März noch nicht fixiert?

Ludwig: Fix ist in dieser aktuellen Situation gar nix. Wir sehen erste Erfolge bei den Impfungen in Alten- und Pflegeheimen. Gleichzeitig nehmen aber die Infektionen bei den Jüngeren zu. Die Gesundheit muss im Vordergrund stehen, trotz aller berechtigten Wünschen nach Sozialkontakten. Am 15. März gibt es weitere Entscheidungen, da treffen sich wieder Mitglieder der Bundesregierung und die Landeshauptleute mit Experten.

STANDARD: Aktuell gelten Ausgangsbeschränkungen bis 20 Uhr. Werden diese mit Öffnung der Schanigärten in Kraft bleiben?

Ludwig: Solange ein größerer Teil der Bevölkerung noch nicht durchgeimpft ist, müssen wir Kompromisse schließen, die unpopulär sind. Ich ersuche jetzt schon um Verständnis, dass es sicher keine generelle Öffnung im März und April geben kann. Öffnungszeiten in der Gastronomie bis 24 Uhr wird es da noch nicht spielen. Wir müssen Entscheidungen treffen, die möglichst wenig schlecht sind. Es gibt in dieser Situation keine beste Entscheidung.

Unpopuläre Kompromisse werde es geben, solange ein größerer Teil der Bevölkerung noch nicht durchgeimpft ist, sagt Bürgermeister Michael Ludwig.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Laut Wirtschaftskammer könnte ein Drittel der Hotels in der Stadt geschlossen bleiben. Wie wollen Sie dem entgegenwirken?

Ludwig: Wir sind im Städtetourismus besonders stark betroffen. Zuletzt haben wir im Konferenz- und Kongressbereich ausgebaut. Das ist völlig weggebrochen, und das trifft uns wirtschaftlich sehr hart. Wir bearbeiten aber jetzt schon die internationalen Märkte etwa in den USA oder Südostasien. Wir wollen nicht bis nach Corona warten, sondern die Sehnsucht nach Wien schon jetzt stärken. Außerdem planen wir neben einer großen Veranstaltungshalle auch einen internationalen Busterminal. Das wird eine Form des Tourismus sein, die sehr schnell wieder in die Gänge kommt.

STANDARD: Die Wiener Neos waren als Oppositionspartei nicht immer zufrieden mit dem Corona-Management der Stadt. Was hat sich geändert?

Wiederkehr: Es ist über den Sommer viel Bewegung hineingekommen. Das Contact-Tracing wurde etwa massiv ausgebaut.

Ludwig: Es arbeiten rund 750 Menschen in diesem Bereich, die Aufklärungsquote beträgt über 70 Prozent.

Wiederkehr: Bei den Tests sind wir europaweit Vorbild. Das ganze pädagogische Personal macht wöchentlich Gurgeltests. Seit Mittwoch impfen wir als erstes Bundesland auch das Lehrpersonal.

STANDARD: Im Sommer wurde der Bundesregierung noch Wien-Bashing vorgehalten. Nun halten Sie mit Kanzler Kurz Pressekonferenzen ab und präsentieren Kompromisse. Woher kommt diese neue Gemeinsamkeit?

Ludwig: Ich habe von Beginn der Krise an Unterstützung angeboten. Ein Teil der Bundesregierung hat aus parteipolitischen Gründen aber vor der Wahl Wien-Bashing betrieben. Jetzt macht es Sinn, den Weg der Zusammenarbeit in der Krise zu gehen. Aber vergessen ist das nicht.

"Innenminister Karl Nehammer sollte für mehr Polizisten in der Stadt sorgen, statt Wien immer nur etwas auszurichten."

Wiederkehr: Schon in der Opposition habe ich die Angriffe des Innenministers auf Wien für schäbig gehalten. In der Krise braucht es Zusammenhalt. Das, was gemacht wurde, war genau das Gegenteil. Innenminister Karl Nehammer sollte für mehr Polizisten in der Stadt sorgen, statt Wien immer nur etwas auszurichten.

STANDARD: SPÖ-Parteichefin Pamela Rendi-Wagner setzt sich gegen Öffnungen ein. Sie tragen den Kompromiss des Bundes mit. Warum hat die SPÖ hier keine gemeinsame Linie?

Ludwig: Es ist kein Unterschied in der Bewertung der Entwicklung der Neuinfektionszahlen. Der Unterschied ergibt sich in der Einschätzung dessen, was die Bevölkerung noch bereit ist mitzutragen. Wir Bürgermeister und Landeshauptleute haben das Ohr sehr nah an der Bevölkerung. Das ist aber keine Besonderheit der SPÖ.

STANDARD: Wann soll die Präsenzlehre für alle Schüler die ganze Woche über wiederaufgenommen werden?

Wiederkehr: Leider ist es beim steigenden Infektionsgeschehen noch immer nicht möglich, in den normalen Präsenzunterricht zu wechseln, auch wenn das die bessere Variante wäre. Wir impfen die nächsten drei Wochen das komplette pädagogische Personal in Wien. Wenn sich die Zahlen stabilisieren, ist sicher eine Rückkehr in den Präsenzunterricht möglich.

STANDARD: Wiens Gesundheitsstadtrat Peter Hacker kann sich eine baldige Rückkehr in den Präsenzunterricht vorstellen. Wem sind Sie da näher, Herr Bürgermeister: Gesundheitsstadtrat oder Bildungsstadtrat?

Ludwig: Erfreulicherweise gibt es ein gutes Einvernehmen.

Wiederkehr: Wir haben das gleiche Ziel: offene Schulen für alle. Natürlich muss man da auf das Infektionsgeschehen schauen und wohin es sich entwickelt.

Ludwig: Es wird davon abhängig sein, inwieweit die Beratungen zwischen Bund und Ländern weitergehen. Da sind auch der Gesundheits- und der Bildungsminister gefragt.

STANDARD: Wie hat sich die Schulpolitik unter einem pinken Stadtrat verändert?

Ludwig: Wir haben uns gemeinsam auf Ziele verständigt. Es geht mir nicht darum, dass wir ein Fußballmatch miteinander führen, wo es 1:0 oder 2:0 oder 1:1 steht. Es geht darum, das Bildungssystem immer an die gesellschaftlichen Gegebenheiten anzupassen. Das ist etwa mit der kostenfreien Ganztagsschule, die ich im Wahlkampf angekündigt habe, passiert.

STANDARD: Es ist noch nicht lange her, da warfen die Neos dem roten Wien strukturelle Korruption, politischen Pfusch, Freunderlwirtschaft, Filz und Intransparenz vor. Haben sich diese Vorwürfe mit mehr Einblick in Ihrer neuen Rolle als Transparenzstadtrat erhärtet?

Wiederkehr: Man hat in den Verhandlungen und der Regierungsarbeit gewisse Vorurteile abgebaut.

STANDARD: Waren die Aussagen überzogen oder nicht?

Wiederkehr: Als Opposition spitzt man manche Sachen etwas zu. Ich halte diese Rolle der Opposition für sehr wichtig. Jetzt bin ich in Regierungsverantwortung und achte darauf, dass Kontrollmöglichkeiten und Transparenz weiter ausgebaut werden.

Ludwig: Transparenz und Korruptionsbekämpfung sind auch mir wichtig. Klar ist: Es geht immer mehr. Die Neos haben gute Vorschläge gemacht. Das setzen wir auch um. Mit der Whistleblower-Plattform ist dem Vizebürgermeister in den ersten 100 Tagen ein großer Wurf gelungen.

"Als Opposition spitzt man manche Sachen etwas zu. Ich halte diese Rolle der Opposition für sehr wichtig", sagt Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Bis Ende Juni sollen 70 Prozent der Bevölkerung geimpft werden. Wird das erreicht?

Ludwig: Unter der Voraussetzung, dass alle Impfdosen, die uns zugesprochen wurden, geliefert werden. Bei uns in Wien werden keine Impfdosen gelagert. Das ist eine völlig unnötige Diskussion, die die Bundesregierung jetzt startet.

STANDARD: Alles, was in Wien ankommt, wird ohne Verzögerung verimpft?

Ludwig: Es wird Vorsorge getroffen, dass wir den zweiten Stich zeitnah setzen können. Da gibt es die Ansicht der Bundesregierung, dass das nicht notwendig ist. Wir haben das anders erlebt: 5.000 ältere Menschen mussten wir auf spätere Termine verlegen, obwohl sie schon fixe Termine hatten, weil die Impfdosen nicht rechtzeitig angekommen sind.

Wiederkehr: Es ist beachtlich, wie schnell wir es schaffen, Termine zur Verfügung zu stellen und auch abzuwickeln. Die Impfbereitschaft ist groß.

STANDARD: In Wiener Neustadt beträgt die Sieben-Tage-Inzidenz mittlerweile 430. Brauchte es hier weitere Maßnahmen wie Ausreisebeschränkungen?

Ludwig: Das wird von der weiteren Entwicklung der Zahlen abhängen. In manchen Bezirken mit hoher Inzidenz gibt es schon Ausreisebeschränkungen.