"Lieber nicht." Karin Popp winkt höflich, aber bestimmt ab. Fotos, meint sie, gebe es keine. Nicht von ihr, nicht von ihrem Mann Andreas, und auch nicht von der gemeinsamen Schlosserei. Letzteres weil sich die Fahrt ins Burgenland "nicht auszahlt", wenn es Ersteres – Bilder der Popps – ohnehin nicht gäbe. Und das aus gutem Grund: "Wir sind kamerascheu. Es gibt Plätze, wo es von Vorteil ist, nicht als der erkannt zu werden, der das Geld holt." Und Geld, Bargeld, holen die Popps ab. Regelmäßig. Und – zu "normalen" Zeiten – nicht nur Kleinstbeträge: "Durch die Menge lässt es sich ganz gut leben."

Waage am Parkring, mit Pudel: Die Personenwaagen verschwinden aus dem öffentlichen Raum. Die hier gezeigten Fotos stammen aus dem 2017 bei der "Wiener Schule der Dichtung" erschienen Fotoband "Wiener Waagen. Von der Poesie des Ablaufdatums" des Fotografen Andreas Urban.
Foto: Andy Urban

Die Popps haben ein Monopol. Ihr Geschäftsfeld ist eine Dienstleistung, die seit Jahrzehnten niemand braucht. Ein Produkt, bei dem sogar Liegenschaftsverwalter, deren Grund und Boden sie seit Ewigkeiten nutzen, "ad hoc gar nicht sagen können, ob die Dinger überhaupt noch da stehen" (eine Wiener Magistratsmitarbeiterin) und nach einem Blick in die Akten staunen, "dass ich täglich an einigen vorbeigehe".

Für viele sind sie quasi unsichtbar. Hier ein Exemplar in der Arbeitergasse.
Foto: Andy Urban

Kein Wunder, denn die Popps betreiben und betreuen allein in Wien 150 öffentliche Personenwaagen. Österreichweit sind es rund 400. Die Dinger sind massiv. Mannshoch. Und auch etwa so breit und schwer. Sie stehen zentral: Bei Öffi-Haltestellen, auf Märkten, auf Plätzen. Bei Sehenswürdigkeiten. Und sind trotzdem fast unsichtbar. Wie so vieles, was man im Alltag nicht mehr wahrnimmt. Machen Sie den Selbsttest: An wie vielen weiß-grauen Schaltkästen für Ampeln, Strom- und andere Netze kommen Sie täglich vorbei? Wo stehen die Dinger einzeln – und wo in Gruppen? Eben.

Selfie-Material

Das Gleiche gilt für die Waagen der Popps: Ja, sobald man sie (wieder) beachtet, sieht man sie. Überall. Schließlich sind sie integrale Bestandteile des Stadtbildes. Objekte, die der Wiener Stadthistoriker Peter Payer "Stadtmöbel unter dem Radar" nennt. Aber sobald sie wahrgenommen werden, kommt dann jene Frage, die die Popps, aber auch Payer selbst fast staunend beantworten: Ja, es gibt Menschen, die Münzen in die altertümlichen, so gar nicht in die Zeit passenden Analogtrümmer werfen.

Beliebtes Fotomotiv: eine Personenwaage beim Belvedere.
Foto: Andy Urban

Payer: "Wir hatten auch im Technischen Museum eine stehen – und ich war immer wieder baff, wie oft sie benutzt wurde." Die Usergruppe im Museum dürfte jener im öffentlichen Raum ähneln: Touristen. Oder Zeitgenossen, die der unzeitgemäß-analoge Charme zu Selfies reizt. Alleine, im launigen Wiegewettbewerb oder bei Wetten, wie viele Leute auf die Plattform können, bis der Zeiger am Ende der Skala anschlägt.

Verschleißteile selbst nachbauen

Dafür, dass die Waagen das aushalten, investieren die Popps viel Zeit und Herzblut. "Bei normalem Gebrauch können sie eigentlich nicht defekt werden", sagt Karin Popp. Dennoch wurde das Waageninnere immer wieder adaptiert. Auch um es Vandalen schwerer zu machen, die Dinosaurier zu beschädigen. So wurden vor Jahren die Mineralgläser über den Skalen durch "unkaputtbares" Acrylglas ersetzt. Doch weil es schon lange keine Ersatzteile mehr gibt, stehen in der Pinkafelder Schlosserei heute selbstangefertigte Maschinen, um Verschleißteile selbst nachzubauen.

Breitensee: Ja, es gibt Menschen, die Münzen in die altertümlichen, so gar nicht in die Zeit passenden Analog-Trümmer einwerfen.
Foto: Andy Urban

Denn die "Wiener Waagen" werden seit Jahrzehnten nicht mehr hergestellt: 1978 wurde in Wien-Landstraße, aus der Fabrik der aus den Niederlanden stammenden Firma Berkel, die letzte Münzpersonenwaage ausgeliefert. Seither – genauer: seit Andreas Popp 1988 das Geschäft vom letzten Münzwiegeunternehmer Stephan Szupper übernommen hat – bewahren die Popps Dienstleistung und Stadtmöbel vor dem Aussterben und erzählen ein Stück Technologie- und Stadtgeschichte.

Errungenschaft

Die ersten Münzautomaten fanden in den 1880er-Jahren aus den USA ihren Weg über den Atlantik. Zu den Europapionieren zählte die deutsche Firma Stollwerk, deren Automatenschokolade rasch ein Exportschlager wurde, dem andere Produkte und Dienstleistungen folgten. 1888 wurden zum 40-jährigen Thronjubiläum Kaiser Franz Josephs bei der "Jubiläums-Gewerbe-Ausstellung" die neuesten Tech-Errungenschaften präsentiert. Unter anderem automatische Waagen mit Münzeinwurf der Waagenfabrik C. Schember & Söhne.

Sie stehen an belebten Ecken der Stadt: Hier beim Parlament.
Foto: Andy Urban

Neue Technologien generieren aber Missverständnisse. Damals wie heute: Stadthistoriker Payer zitiert in einer der wenigen wissenschaftlichen Arbeiten über Stadtwaagen, dem 2012 in der Viertelsjahreszeitschrift Forum Stadt erschienenen Text Zur Geschichte der öffentlichen Personenwaagen, das "humoristische Wochenblatt Figaro". Dem zufolge riefen Waagenbenutzer sogar die Polizei: "I hab’ da drei Kreuzer einithan, und ’s kommt ka Schokolat’ außa."

Frühes "Bodymanagement"

Die Geräte kamen dennoch gut an. Wurden genutzt – und "gepimpt": Um 1900 hatten manche Waagen kleine Spiegel. Denn, so Payer, "der prüfende Blick auf sich selbst wurde für Frauen wie für Männer zur Gewohnheit. Modebewusstsein, moderne Körper- und Schönheitspflege begannen den Alltag zu bestimmen. Praktiken des ‚Bodymanagements‘ entwickelten sich zum Massenphänomen. Schlankheit geriet zum Körperideal." Prompt wurden die öffentlichen Waagen zu beliebten Motiven für "Scherzkarten" – in der Regel wurde auf Kosten von Frauen gehöhnt.

Personenwaage am Kagranerplatz
Foto: Andy Urban

Die wahre Blüte der öffentlichen Wiegerei setzte in Wien aber in den 1950er-Jahren ein. Und der Platzhirsch von damals, Berkel, hat seine Vormachtstellung bis heute gehalten. Nicht ohne Grund, meint Karin Popp: Der "Rolls-Royce unter den Personenwaagen" (Popp) sei eben zeitlos: Ein von den Popps unlängst entdecktes, nie gewartetes oder zerlegtes Originalgerät habe "nach über 40 Jahren so korrekt wie am ersten Tag gewogen".

Mühseliges Geschäft

Der Schönheitsfehler sei halt, dass heute niemand mehr öffentlich – und somit voll bekleidet – auf eine Waage steigt, um sein oder ihr Gewicht zu erfahren. Doch das ist in Wirklichkeit das kleinere Problem dieser historischen Artefakte. Vom Aussterben, also dem Verschwinden aus dem öffentlichen Raum, sind Stadtwaagen aus einem ganz anderen Grund bedroht: Die Popps nähern sich dem Pensionsalter. Ihre Kinder interessiert das mühselige Wiegegeschäft nicht. Karin und Andreas Popp können das verstehen und nachvollziehen. Aber was das mittelfristig bedeutet, ist allen Beteiligten klar. (Tom Rottenberg, 4.3.2021)