Inhalte des ballesterer #159 (April 2021) – Seit 5. März im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk

SCHWERpunkt: FC SCHALKE 04

KREISLAUF IN KÖNIGSBLAU

Der FC Schalke 04 zwischen Titeln, Träumen und Tränen

IDENTITÄTSKRISE

Auf Schalke schwelt ein Richtungsstreit

Außerdem im neuen ballesterer

TRAUN CALLING

Die Machtkämpfe beim LASK

SIEHT DOCH GLEICH BESSER AUS

Blau-Weiße Umbaupläne für den Donaupark

DAUERLÄUFER UND UNTERHALTER

Abschied von Mehrdad Minavand

DRIBBLER UND TRICKSER

Felix Gasselich über die Austria, Ajax und das Nationalteam

HERAUSFORDERUNG CORONA

Rapids Teamarzt über Teststrategien und Impfprioritäten

STAATLICHES NAMEDROPPING

Chinas Verband verbannt Investoren

FILMREIF

Der undurchsichtige Eigentümer von Elche CF

ZEICHNUNGEN DER ZEIT

Athletic Bilbao im Spiegel der Pandemie

LOST GROUND BOSUILSTADION

Die Hölle von Antwerpen

ERINNERUNG AN ALFRED DÜNMANN

Der SK Rapid und der Umgang mit der Shoah

FUSSBALL IST DAS NICHT

Ein Anstoß zum Spiel in der Pandemie

SPIEL DES LEBENS

Matchberichte aus Graz, Italien und Spanien

Yves Eigenrauch war immer ein eher untypischer Fußballer.

Foto: Podcast Artists

Darüber habe ich noch nicht nachgedacht", sagt Yves Eigenrauch im ballesterer-Interview häufiger. Das verwundert, denn Eigenrauch galt immer als einer, der über vieles nachdenkt und schon während der aktiven Karriere eine kritische Distanz zum Profifußball gehalten hat. So nutzte er Ende der 1990er-Jahre eine Verletzungspause, um mit der "Schalker Fan-Initiative" zu einem Fanaustausch nach Posen zu fahren. Die Schalker Delegation feierte nicht nur mit den Lech-Hooligans in der Disko, sondern besuchte die Fans auch zu Hause. "Die teils einfachen Lebensverhältnisse zu sehen", sagt Eigenrauch, "war eine prägende Erfahrung." Von diesen gab es viele in seiner Zeit auf Schalke, auch manche unerwartete.

ballesterer: Sie sind 1990 in der zweiten Liga zu Schalke gekommen. War Ihnen bewusst, bei was für einem Klub Sie gelandet sind?

Yves Eigenrauch: Ich habe es klasse gefunden, bei Schalke spielen zu können. Schon als Kind habe ich Schalkes Stürmer Klaus Fischer toll gefunden. Aber ich habe nie davon geträumt, Profi zu werden, das hat sich so ergeben. Die ganze Tragweite, also was der Verein vielen Menschen bedeutet, war mir noch nicht bewusst.

ballesterer: Sie sind 170 Kilometer entfernt, im ländlich geprägten Ostwestfalen, groß geworden. Was waren Ihre ersten Eindrücke vom Revier und von Gelsenkirchen?

Eigenrauch: Ich habe in Gelsenkirchen-Buer unweit der Zeche Hugo gewohnt. Alles wirkte relativ abgeranzt, aber großstädtisch. Das war wie auf einem anderen Planeten, auch die Mentalität war eine völlig andere. Ich bin nicht der Typ, der irgendwo hinkommt, "Hurra, hier bin ich" ruft und dann steil geht. Ich habe zwar Kontakt zu den Mitspielern gehabt, aber andere Leute kennenzulernen ist mir schwergefallen.

ballesterer: Wie ist es Ihnen damit ergangen?

Eigenrauch: Ich war 19 und das erste Mal weg vom Elternhaus und vom Freundeskreis. Vorher war ich es gewohnt, regelmäßig und relativ konstant zu spielen. Das war auf Schalke nicht der Fall, ich habe in der Mannschaft anfangs keine Rolle gespielt.

ballesterer: Ihren ersten Einsatz verdanken Sie angeblich einer Partie Backgammon.

Eigenrauch: Das war in der Mittagspause vor einem Abendspiel in Nürnberg. Unter Trainer Aleksandar Ristic haben wir uns in der Zeit auf unseren Zimmern aufhalten und ausruhen müssen. Ein paar Spieler haben stattdessen Backgammon gespielt. Ristic hat sie erwischt, das Brett aus dem Fenster gefeuert und die Spieler aus dem Kader geworfen. In der Besprechung hat er zu mir gesagt: "Du spielst heute."

ballesterer: Sind Sie aufgeregt gewesen?

Eigenrauch: Ich habe noch nie einen so roten Kopf gehabt. Ich war völlig fertig. Ich habe aber recht ordentlich gespielt und bin danach mehr oder minder regelmäßig zum Einsatz gekommen. Ohne die Geschichte mit dem Backgammon-Spiel wäre das nicht passiert, da bin ich ganz sicher. Zumal ich einige Monate vorher den damaligen Manager Heribert Bruchhagen gebeten hatte, meinen Vertrag aufzulösen. Das hat er jedoch abgelehnt.

ballesterer: Sie haben als Sonderling gegolten. Warum?

Eigenrauch: Ich habe nicht in das Konstrukt Profifußball gepasst, ich bin immer etwas abseits gestanden. Auch aufgrund meiner Kleidung – bunte Krawatten, hautenge Hosen. Manche Kollegen haben gedacht, ich hätte einen homosexuellen Touch, damit haben sie nicht umgehen können. Aber irgendwann haben sie gemerkt, dass ich mich nicht verbiegen lasse. Vielleicht war es auch Resignation, nach dem Motto: "Den ändern wir nicht mehr." Sie haben mich in meiner Art akzeptiert.

ballesterer: Welche Bedeutung hat der Fußball für Sie gehabt?

Eigenrauch: Das klingt romantisierend, aber Fußball war für mich einfach eine schöne Sache. Daraus macht man kein Business, sondern man pflegt einen natürlichen Umgang miteinander, ist aufrichtig und ehrlich, hat Spaß.

ballesterer: War das bei Schalke so?

Eigenrauch: Klar, sonst hätte ich nicht so lange dort gespielt. Mitte der 1990er Jahre hat es eine echte Gemeinschaft gegeben. Die Mischung hat gestimmt, nicht nur in der Mannschaft, sondern auch mit den Masseuren, Betreuern und den Leuten auf der Geschäftsstelle. Eine Gemeinschaft wird ja nicht durch Homogenität erreicht, sondern durch unterschiedliche Charaktere und Meinungen. Jeder hat seine Marotten.

ballesterer: Welche waren das bei Manager Rudi Assauer und Trainer Huub Stevens?

Eigenrauch: Herr Assauer war schon ein bisschen narzisstisch, aber in Maßen. Es war sehr angenehm, dass ich mit ihm über alles sprechen konnte. Nicht dass wir danach immer einer Meinung gewesen wären, aber wir haben einander respektiert, und man hat sich auf sein Wort verlassen können.

ballesterer: Und Stevens?

Eigenrauch: Er war ein Disziplinfanatiker und hat mit seinem Verständnis von Fußball einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass die Mannschaft funktioniert. Und wir haben bei den Spielen immer die gleichen Klamotten getragen. Und wir sprechen jetzt nicht nur vom Trainingsanzug, sondern den gleichen Socken, dem gleichen T-Shirt.

ballesterer: All das hat dann zum UEFA-Cup-Sieg 1997 geführt.

Eigenrauch: So etwas hängt ja auch von vielen glücklichen Umständen ab. Anfangs haben die Leute noch gespottet: "Mal schauen, ob sie in der ersten oder der zweiten Runde rausfliegen." Und es war ja völlig absurd, im positiven Sinne. Nicht nur, dass wir so weit kommen, sondern dann auch gegen Inter gewinnen. In Mailand, im Giuseppe-Meazza-Stadion. Das Stadion ist ja für sich schon eine Wucht, allein aufgrund der Architektur.

ballesterer: Die Architektur? Hat Ihnen der sportliche Erfolg etwa nicht so viel bedeutet?

Eigenrauch: Doch. Wenn man so weit gekommen ist, will man das Finale natürlich gewinnen. Auch weil ich finde, dass der UEFA-Cup vom Design der schönste Pokal ist, den man im Fußball holen kann.

ballesterer: Apropos Design, Sie sollen Stevens’ Spielanweisungen zu Kunst verarbeitet haben.

Eigenrauch: Ja, ich habe seine Taktikbögen mitgenommen und überarbeitet, sie in Collagetechniken übereinander gelegt. Also etwa seine Anweisungen zum Verhalten bei Standardsituationen. Die habe ich auf Transparentpapier kopiert und mit der Startaufstellung kombiniert. In unserem Projekt "Art goes Sports" an der Kunstakademie Münster haben wir dann Siebdrucke hergestellt, auch vom Finale in Mailand. Herr Stevens war bei der Vorlagenerstellung behilflich und hat die fertigen Drucke unterschrieben.

ballesterer: Was hat er dazu gesagt?

Eigenrauch: Es hat ihm gefallen. Er hat das gerne gemacht.

ballesterer: Sie haben damals Kunst gemacht, später für die "taz" eine Kolumne geschrieben. Neuerdings betreiben Sie einen Podcast. Warum?

Eigenrauch: Vor anderthalb Jahren hat mich eine Journalistin gefragt, ob ich mir das vorstellen könnte. Von selbst wäre ich nie darauf gekommen, ich habe keinen Bezug zu Podcasts gehabt. Ich treffe in den Folgen verschiedene Menschen und spreche mit ihnen über ihre Arbeit. Es geht eher um Kunst und Kultur, aber es ist auch spannend, Leute aus dem Fußball wiederzutreffen, die ich vielleicht früher für Vollhonks gehalten habe.

ballesterer: In welcher Beziehung stehen Sie heute zu Schalke? Sind Sie Ex-Spieler, Sympathisant oder Skeptiker?

Eigenrauch: Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ich habe immer eine gewisse Distanz zum Fußball gehabt. Ich verfolge die Entwicklungen seit Jahren. Die des Fußballs im Allgemeinen finde ich befremdlich, zu Schalke im Speziellen fehlen mir inzwischen die Worte.

ballesterer: Was stört Sie besonders?

Eigenrauch: Es ekelt mich an, wie der Fußball heute betrieben wird. Nach meiner Karriere habe ich einmal beim Training zugeschaut. Da war neben dem Trainingsplatz ein Gitterkäfig aufgebaut, darin sind die Journalisten gestanden und haben darauf gewartet, dass drei oder vier vom Verein ausgewählte Spieler kommen, um mit ihnen zu reden. Das hätte ich mir als Spieler nicht gefallen lassen. Ich habe selbst entschieden, mit wem ich spreche und worüber. Dazu gehört auch, im Zweifel im Nachhinein sagen zu müssen: "Da habe ich Mist erzählt, das tut mir leid." Solche Erfahrungen sind ja Teil des Lebens.

ballesterer: War es denn früher besser?

Eigenrauch: Nein, aber anders: kleiner, moderater. Natürlich war Fußball auch schon früher ein Business. Aber es wird heute noch größer aufgehängt. Die Fans sind Konsumenten, denen etwas vorgegaukelt wird. Und das wird immer weiter gedreht. Es muss aber nicht immer weitergehen, es muss auch einmal Schluss sein, indem man sagt: "So ist es in Ordnung, das reicht jetzt."

ballesterer: Was macht Ihnen Hoffnung?

Eigenrauch: Resignieren ist jedenfalls keine Lösung. Das machen schon genug Leute, die sich denken: "Ich kann ja sowieso nichts dagegen tun." Als Individuum vielleicht nicht, aber man sollte nicht vergessen, welche Kraft eine Gemeinschaft haben kann. Wenn die Leute sich auf ihre Stärke in der Masse besinnen würden, könnten sie viel erreichen.

ballesterer: Würde es helfen, dem Spiel fernzubleiben und den Fernseher nicht mehr einzuschalten?

Eigenrauch: Na klar, das wäre ein Signal. Wenn das alle Fans durchziehen, würde ich gerne wissen, wie es in zwei Jahren im Fußball aussähe. Das ist aber sehr theoretisch, verschiedene Fans haben verschiedene Interessen. Ich kann mich noch gut erinnern, als es 2001 um den Umzug vom Parkstadion in die Arena gegangen ist. Wie viele da geschrien haben: "Da gehe ich nicht hin." Und was war dann? Die Bude war gerammelt voll.

ballesterer: Können Sie verstehen, dass so viele Fans ihr Leben nach Schalke ausrichten?

Eigenrauch: Mit Fanatismus kann ich nicht viel anfangen. Ich finde es aber toll, wenn sich Menschen für etwas begeistern. Das Problem ist nur, was die Leute alles mit sich machen lassen. Dass sie zum Beispiel alles kaufen, was ihnen vorgesetzt wird. Das geht schon bei den Fanartikeln los. Braucht man wirklich einen Schalke-Schnuller für sein Baby?

ballesterer: Haben Sie Freude daran, ins Stadion zu gehen?

Eigenrauch: Ich war vor Corona in der Nordkurve. Ein Freund hat Karten für das Spiel gegen Bayern besorgt. Mich hat fasziniert, womit sich die Leute 90 Minuten lang beschäftigt haben. Die meisten haben gequatscht, mit ihrem Handy hantiert oder sind Bier holen gegangen. Mir war nicht klar, dass das Spiel so wenig Aufmerksamkeit genießt.

ballesterer: Sind Sie eigentlich stolz auf ihre Zeit bei Schalke?

Eigenrauch: Stolz ist ein Begriff, den ich nicht verwende. Ich habe auf Schalke viel Spaß gehabt. Es war eine schöne Zeit mit spannenden Entwicklungen, die im UEFA-Cup-Sieg gemündet sind. Dabei geht es gar nicht nur um den Titel, sondern um die Art, wie er zustande gekommen ist. Das war einer der schönsten Momente. Aber es gab noch einen, der mir einfällt.

ballesterer: Und zwar?

Eigenrauch: Das Doppelkonzert von Robbie Williams in der Arena 2003.

ballesterer: Das müssen Sie bitte erklären.

Eigenrauch: Ich habe nach meiner aktiven Karriere im Veranstaltungsbereich der Arena auf Schalke gearbeitet. Robbie Williams war für mich damals der ultimative Musiker. Dieses Konzert mitorganisieren zu können, die Freude der Leute zu sehen, all das mitzuerleben, dafür bin ich sehr dankbar. (Jan Mohnhaupt, Nicole Selmer, 4.3.2021)