Kaum ein Land testet so viel wie Österreich, doch der Nutzen dieses Kraftakts ist umstritten. "Bisher haben sich Massentests nicht bewährt", sagt der Infektiologe Günter Weiss.

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Österreich ist Testweltmeister: Kaum ein Auftritt der türkis-grünen Regierung kommt mehr ohne dieses Selbstlob aus. Aus der Luft gegriffen ist die Behauptung nicht, denn tatsächlich liegt die Republik in dieser Disziplin im globalen Spitzenfeld. Zuletzt fanden hierzulande mehr als 1,5 Millionen Covid-Tests pro Woche statt.

Doch was bringt diese Übung? Wer eine optimistische Antwort sucht, ist bei Oswald Wagner richtig. Der Vizerektor der Medizinischen Universität Wien, der auch die Regierung berät, hält massenhafte Tests für ein Rezept, um der Gesellschaft Lockdowns zu ersparen. Würden genügend Menschen laufend dahingehend überprüft, ob sie das Virus unbemerkt in sich tragen, argumentiert Wagner, ließe sich das eine Prozent der Infizierten finden: "Die restlichen 99 Prozent müssten dann nicht mehr auf ihre Freiheiten verzichten."

Unumstritten ist diese Strategie allerdings nicht. "Bisher haben sich Massentests nicht bewährt, um die Infektionsraten zu drücken", sagt Günter Weiss, Leiter der Klinik für Innere Medizin an der Med-Uni Innsbruck und Mitglied im Beraterstab des Gesundheitsministeriums: "Ich bezweifle, dass der Beitrag zur Bewältigung der Pandemie groß ist."

Beschränkte Trefferquote

Als entscheidende Schwäche nennt Weiss die beschränkte Trefferquote – oder, wie es der Experte ausdrückt: Sensitivität – der hauptsächlich angewandten Antigen-Schnelltests. Diese sprechen erst an, wenn die Virenlast im Körper ein relativ hohes Niveau erreicht hat. So kann es sein, dass infizierte Menschen einen negativen Test abliefern, aber zur selben Zeit oder ein, zwei Tage später bereits ansteckend sind.

Die Botschaften der Politiker blendeten dieses Risiko aber weitgehend aus, sagt der Infektiologe, die Bürger hörten immer nur, dass sie sich fürs Essengehen, für den Friseurbesuch, fürs Freundetreffen "freitesten" könnten. "Jene Fälle, die dank der Tests herausgefischt wurden, bekommen wir auf der anderen Seite wieder dazu, weil sich die Leute sorgloser verhalten", befürchtet er. "Wenn sich an einem warmen Nachmittag Tausende am Wiener Donaukanal drängen, hilft es wenig, wenn ich vorher groß teste."

Trügerischer Freibrief

Es habe Gründe, warum namhafte Instanzen wie das deutsche Robert-Koch-Institut und das European Center for Disease Control Massentests nicht unter ihre Empfehlungen gereiht hätten, sagt Weiss und verweist auf die Erfahrungen in Südtirol. Die norditalienische Provinz hatte im November einen großen Massentest ausgerollt, an dem 65 Prozent der Bevölkerung teilnahmen. Doch wie der Forscher Piotr Tymoszuk analysiert, habe das dem Land im Vergleich zu anderen Provinzen keinen Vorteil gebracht – und in Orten mit besonders vielen Teilnehmern sanken die Infektionszahlen nicht stärker als in Testmuffel-Gemeinden. Der Mikrobiologe und Biostatistiker schließt daraus: Die "langweiligen" Klassiker wie konsequentes Maskentragen, Händewaschen, Kontaktverzicht und Abstandhalten wirkten besser als Massentests.

Allerdings merkt Tymoszuk an, dass das Setting hierzulande nun ein anderes ist: Während es sich in Südtirol um eine einmalige, als "Wellenbrecher" gedachte Aktion handelte, setzt Österreich auf Dauertests. "Das ist auf jeden Fall sinnvoller", sagt er, bleibt aber bei einem Bedenken: "Wenn die Antigentests nun als Freibrief beworben werden, muss ich bezweifeln, dass man so die Pandemie abbremsen kann."

Immer nur die selben braven Bürger

Peter Klimek vom Complexity Science Hub fügt ein weiteres Problem an. Gehen zu den Tests immer dieselben, ohnehin disziplinierten Menschen, dann ließen sich nicht allzu viele Infektionen aufdecken. Deshalb sei die Strategie noch lange nicht falsch, sagt Klimek, doch niemand solle so tun, als könne Österreich dadurch ein paar Wochen früher wieder alles aufsperren: "Dafür werden bei allen Anstrengungen immer noch zu wenige Leute getestet."

Die Erfahrungen an den Schulen nähren Zweifel. Rund 1,4 Millionen Tests brauchte es in der vergangenen Woche dort, um unter Lehrern und Schülern 1247 positive Fälle aufzuspüren. Bei der "Gurgelstudie" mittels sensitiveren PCR-Tests im Herbst war die Trefferquote deutlich höher – ein Indiz dafür, dass bei den Schnelltests tatsächlich viele Infizierte durch die Lappen gehen.

Infektionsanstieg trotz Testerfolgs

Außerdem drängt sich eine Frage auf: Wenn massenhaftes Testen der Königsweg ist – warum sind die Infektionszahlen zuletzt dennoch stark gestiegen? Dass der Grund gerade darin liegen könnte, dass dank mehr Tests eben mehr Fälle gefunden würden, hat die Corona-Ampelkommission dementiert. Dieser Effekt mache nur zehn bis 15 Prozent aus, so die Experten Ende Februar.

Der Dauertestverfechter Wagner hat eine andere Erklärung parat. Die laut Gesundheitsministerium um rund 23 Prozent ansteckendere britische Mutation sei den Bemühungen in die Quere gekommen, sagt er. Ohne diesen Treiber wäre der Erfolg der Strategie längst sichtbar, zumal das alte Virus derzeit stark zurückgedrängt werde. Nun gelte es eben, die Tests weiter auszubauen.

Nicht perfekt, aber gut

Die Schwachstellen wolle er gar nicht leugnen, räumt der Labormediziner ein. Ja, natürlich würden bei den Antigentests manche Infizierte übersehen werden, wiewohl die besten Produkte schon so gut seien, dass dies nur mehr auf fünf bis zehn Prozent zutreffe. Ebenso wenig bestreitet er, dass sich zu einem Teil tatsächlich immer nur dieselben braven Bürger überprüfen lassen: "Ich bin deshalb für eine Testpflicht in manchen Bereichen, etwa an den Arbeitsplätzen."

Letztlich gelte aber, was der US-Virologe Anthony Fauci feststellte: "Machen wir das Perfekte nicht zum Feind des Guten." Die Tests seien eine Barriere gegen Covid, wie es etwa die FFP2-Masken auch seien, sagt Wagner und fühlt sich an frühere Debatten erinnert. Was sei anfangs nicht für "Unsinn" gegen den Mund-Nasen-Schutz ins Treffen geführt worden – etwa dass dieser bei schlampiger Handhabung mehr schade als nütze.

Der Skeptiker Weiss glaubt hingegen, dass das Geld für das Massenscreening an anderer Stelle – etwa beim Contact-Tracing – besser angelegt wäre. Der Staat müsse sich fragen, ob er seine Ressourcen richtig einsetzt: "Aber hinter den Tests steht eben auch eine Branche mit wirtschaftlichen Interessen – und damit eine starke Lobby." (Gerald John, 8.3.2021)