Ursprünglich suchte ein 61-Jähriger im Internet jemanden für sadomasochistische Praktiken. Er fand eine 24-Jährige – und verlor über 250.000 Euro.

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Wien – Würde man den Fehler begehen, von Einzelfällen auf das große Ganze zu schließen, würde man die Zweitangeklagte Jelena G. wohl für eine Studentin der Wirtschafts- oder Rechtswissenschaften halten. Die 24 Jahre alte Unbescholtene ist dezent-konservativ gekleidet, apart geschminkt, benutzt das aktuellste iPhone-Modell und hat eine Chanel-Tasche neben sich, als sie sich vor einem Schöffengericht unter Vorsitz von Stefan Renner verantworten muss.

G.s Status in dem Verfahren ist zwischen Verteidiger Mirsad Musliu und dem Staatsanwalt umstritten. Musliu betont in seinem Eröffnungsplädoyer: "Es gibt Fälle, wo Täter und Opfer nicht zu unterscheiden sind." Seine Mandantin habe früher als Zwangsprostituierte arbeiten müssen, leide am Borderline-Syndrom und schweren Depressionen, weshalb die ledige Mutter von einer Berufsunfähigkeitspension in Höhe von 980 Euro leben müsse. Der Ankläger kontert in seinen Schlussworten: "Das einzige Opfer ist der Herr N. Sicher nicht die hier sitzende Zweitangeklagte", stellt er klar.

"So etwas sieht man normal nur im Fernsehen"

Denn aus Sicht der Anklagebehörde sollen G. und der 34 Jahre alte Erstangeklagte B. – den man auch optisch durchaus für den dreifach vorbestraften Tankwart halten kann, der er auch ist – ein 61-Jähriges Opfer um über 250.000 Euro erleichtert haben. Durch Erpressung, schweren gewerbsmäßigen Betrug, Diebstahl und Datenverarbeitungsmissbrauch. "So etwas sieht man normal nur im Fernsehen", kündigt der Staatsanwalt den Schöffinnen an.

Folgendes soll passiert sein: Der 61-Jährige soll auf der Suche nach Sex und Liebe gewesen sein und inserierte deshalb im Oktober 2019 im Internet. G. antwortete, man war sich sympathisch, Anfang Dezember fuhr man gemeinsam nach Belgrad auf Urlaub. Dort gab N. der Zweitangeklagten seine Bankomatkarte samt Code, da die Bosnierin "ja die dortige Sprache spreche. Das schien mir sinnvoller, als wenn ich es mit Englisch probiere", erklärt der Angestellte als Zeuge.

27.000 Euro im Urlaub ausgegeben

Dass G. dann gleich 27.000 Euro in der serbischen Hauptstadt ausgab, erschien ihm zwar schon etwas viel, aber er hatte ja von seinen Eltern einiges geerbt. Zurück in Wien soll G. ihm am 23. Dezember 2019 gesagt haben, sie brauche 7000 Euro. Die fordere ihr ehemaliger Zuhälter, ein gewisser "Thomas". N. gab ihr das Geld. Nach den Weihnachtsfeiertagen wiederholte sich das Spiel: N. und G. trafen sich vor der Bank, diesmal bekam die junge Frau 21.000 Euro, die sie angeblich "Thomas" übergeben wollte.

Doch schon wenige Stunden später arrangierte G. ein neuerliches Treffen vor der Bank. Ihr Telefon klingelte, sie sagte "Für dich." und übergab N. das Gerät. Der hörte eine männliche Stimme, die sagte: "Es müssen noch 100.000 Euro behoben werden, sonst passiert etwas Schlimmes." Der Anrufer soll laut Anklage der Erstangeklagte gewesen sein, der immer wieder phasenweise eine Beziehung mit der Mitangeklagten hatte. N. ging wieder in die Bank, da man dort offenbar schon misstrauisch wurde, erzählte er etwas von einem Hauskauf.

Onlinebanking missbraucht

G. hatte noch nicht genug. Da sie Zugang zu N.s Onlinebanking hatte, überwies sie sich am 30. Dezember 100.000 Euro auf ihr eigenes Konto, kaufte um 30.000 Euro Gold und tilgte 1700 Euro Schulden, die sie hatte. "Dann hatte das Opfer genug und ging zur Polizei", rekapituliert der Staatsanwalt und erwähnt auch, dass G. irgendwann vor dem Jahreswechsel den Laptop und das Tablet von N. aus dessen Wohnung gestohlen haben soll.

Letzteres bestreitet die Zweitangeklagte. G. habe die Geräte bei ihr vergessen Und überhaupt: "Das war kein iPad, kein Apple, sondern irgendein Glumpert. Samsung oder so", hält sie fest. Mit Marken kennt sich die 24-Jährige überhaupt gut aus. Sie weiß, dass ihr Mobiltelefon neu 1350 Euro kostet, ihre Markentasche würde auf rund 7500 Euro kommen. Wenn sie echt wäre. "Aber die ist gefälscht, die kostet 150 Euro", klärt G. das Gericht auf.

Zwölf Anrufe in wenigen Stunden

Der Erstangeklagte B. bestreitet, der mysteriöse Anrufer gewesen zu sein, die Zweitangeklagte bestätigt das. Den wahren Täter will sie aber nicht verraten. Das Problem des Kosovaren ist, dass Vorsitzender Renner sich die Rufdatenerfassung für den Zeitraum vom 27. Dezember 2019 bis 3. Jänner 2020 von G.s Handy von der Polizei schicken ließ. Daraus geht hervor, dass B. die Zweitangeklagte am 27. Dezember zwölfmal angerufen hat – just zum Tatzeitpunkt. Sonst gab es keine Anrufe – und B. hat sich auch danach nicht mehr bei seiner On-off-Partnerin gemeldet.

G. spekuliert, dass sie den Drohanruf vielleicht auf ihrem "Arbeitshandy" entgegen genommen habe. Der Vorsitzende ist verwirrt: "Ich dachte, Sie sind in Berufsunfähigkeitspension?", fragt er die 24-Jährige. "Ich hab manchmal illegal Fußpflege gemacht. Da wollte ich ein eigenes Telefon, damit meine Nummer nicht aufscheint." – "Sie haben schwarz gearbeitet?" – "Ich hatte meine fünf, sechs Omas im Monat. Von 980 Euro kann man ja nicht leben!" Das Opfer N. ist sich aber ziemlich sicher, dass er damals am 27. Dezember G.s "privates" Mobiltelefon entgegennahm.

Dann versucht G. es mit einer anderen Erklärung: Der Erstangeklagte habe gelegentlich extensives Redebedürfnis gehabt. "Der Irre hat ständig angerufen, ich habe teilweise das Handy einfach weggelegt", versucht sie zu begründen, warum sie zwölfmal mit B. telefoniert habe, während sie gleichzeitig N. ihre Notlage vorspielte.

Trüb ist G.s Erinnerung auch daran, was mit den 100.000 Euro passiert ist. Zunächst behauptet sie, es nicht zu wissen. Dann sagt sie, N. und sie hätten es gemeinsam verprasst, was das Opfer wiederum bestreitet.

"Habe in ihr Lebensfreundin gesehen"

Dafür kann sich die Zweitangeklagte gut an ihr Verhältnis zu G. erinnern: "Ich habe in ihr echt eine Lebensfreundin gesehen." Wer ob des plötzlichen Wechsel von G.s Geschlecht nun verwirrt ist: Laut G. wollte N. eigentlich eine Frau sein, er hatte auch einen weiblichen Spitznamen. Zu den von G. ursprünglich im Internet gesuchten sadomasochistischen Praktiken sei es nie gekommen, man habe sich einfach gern und viel Spaß gehabt. "Wir haben uns immer Schwestern genannt", verrät G. noch.

Bei einer späteren Gelegenheit beteuert sie: "Ich habe N. ja geliebt." Tatsächlich sei es, nachdem das Opfer die Zweitangeklagte angezeigt hat, zu einer neuen Beziehung gekommen. Was dazu führte, dass N. der Staatsanwaltschaft zwei E-Mails schrieb, in denen er die Vorwürfe relativierte, was ihm eine Vorstrafe von drei Monaten bedingt wegen versuchter Begünstigung eingebracht hat. Mittlerweile herrscht aber kein Kontakt mehr.

100.000 Euro gerettet, trotzdem mittellos

Interessant ist auch, dass die Onlineüberweisung der 100.000 Euro vom 30. Dezember rückgängig gemacht worden ist, N. mittlerweile aber mittellos ist. Er habe nämlich seiner 21-jährigen "guten Freundin", Frau S., Geld gegeben. Die Zweitangeklagte sagt, diese "rumänische Bulgarin" S. habe N. ausgenommen, sich auf dem Balkan ein Haus um 60.000 Euro gekauft und sei an dem ganzen Schlamassel schuld, da sie N. gegen G. aufgehetzt habe.

Als Vorsitzender Renner N. daher bezüglich des nicht angeklagten Belgrad-Urlaubs und seines durchaus spendablen Umgangs mit Frauen anspricht, gibt der zu: "Das ist ein bissi meine Weichheit." – "Würden Sie sagen, Sie sind leicht manipulierbar?" – "Ja, absolut." Frau S. habe nach dem 30. Dezember auch in seinem Namen mit G. telefonisch Schluss gemacht. "Ich bin zu weich. Ich konnte G. das nicht so hart sagen am Telefon."

"Der Unrechtsgehalt ist nicht so hoch"

Am Ende versucht Verteidiger Musliu noch einmal alles für seine Mandanten. Für Erstangeklagten B. fordert er einen Freispruch, da nicht erwiesen sei, dass er der mysteriöse Anrufer gewesen sei. Zur Zweitangeklagten G. hält er fest, dass N. ja "eine schöne Zeit gehabt hat. Ich glaube, der Unrechtsgehalt ist nicht so hoch", argumentiert er für eine milde Strafe.

B. wird schließlich wegen Erpressung zu drei Jahren unbedingter Haft verurteilt, G. erhält für Erpressung, gewerbsmäßigen schweren Betrug, schweren Diebstahl und betrügerischen Datenverarbeitungsmissbrauch 21 Monate, drei davon sind unbedingt. Zusätzlich müssen sie N. seinen Schaden ersetzen. Die beiden Angeklagten erbitten sich Bedenkzeit, der Staatsanwalt gibt bei G. keine Erklärung ab, die Entscheidungen sind daher nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 4.3.2021)