Autor Bernd Schuchter sieht in seinem Gastbeitrag die Kritik an Tirol als Ablenkungsmanöver, das von "den wirklich wichtigen Problemen" der Corona-Pandemie ablenken sollte. Generell sieht er die Bevölkerung ermüdet.

"Die Tiroler sind schön, heiter, ehrlich, brav und von unergründlicher Geistesbeschränktheit", urteilte der große Dichter und noch größere Spötter Heinrich Heine über die Bevölkerung dieses unwirtlichen Landstrichs zwischen München und Genua, den er auf seiner Reise nach Italien durchquerte, um fortzufahren: "Sie sind eine gesunde Menschenrasse, vielleicht weil sie zu dumm sind, um krank sein zu können."

Wenn sich der Nebel lichtet: War die Kritik am Tiroler Umgang mit der Corona-Pandemie übertrieben? Oder doch vollkommen berechtigt?
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Heine bringt damit vor rund zweihundert Jahren all jene Ressentiments auf den Punkt, die seit rund drei Wochen über das Land Tirol und seine Bewohner einprasseln. Aber meinte der Dichter überhaupt die Tiroler selbst? War er vielleicht nur vom schlechten Essen oder vom Wetter übel gelaunt? Schließlich ließ Heine mit seinem Spott nichts und niemanden aus und soll etwa über seine Heimatstadt einmal bemerkt haben, sie besitze einen "Geistesblitzableiter".

Politik aus Kalkül

Ein Jahr Pandemie hat die Bevölkerung müde gemacht, die Leute sind es leid, mit ungewissem Fahrplan auf einen noch ungewisseren Ausgang der Krise zu warten. Bei aller nachvollziehbaren Kritik an der politischen Führung des Bundeslandes Tirol hat der plötzliche Hass und Geifer nicht nur auf die Politiker, sondern auch auf die Bevölkerung selbst dann aber doch überrascht.

Mehr noch, es war erschreckend zu sehen, wie einfach ein Land gespalten werden kann. Und dennoch konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, die ganze Debatte sei eine einzige Nebelgranate, um von den wirklich wichtigen Problemen abzulenken. Dieser hauptsächlich politische Machiavellismus, in dem das Teilen-um-zu-herrschen-Prinzip hervorragend funktioniert, macht diese Politik aus Kalkül so gefährlich. Angst ist schließlich nie ein guter Ratgeber, ihr Schüren aber allgemein üblicher Stil. Vor allem hat jeder eine Meinung, die er ungeniert hinausposaunt.

In Krisenzeiten scheint ein Kampf der Meinungen zu herrschen, es geht um Deutungshoheit zu einzelnen Themen, was die Spaltung innerhalb der Gesellschaft nur noch verstärkt. Hilfreich wäre vielmehr, sich daran zu erinnern, dass wir in einer weltweiten Pandemie leben, mit Betonung auf weltweit.

Erbittert geführter Kampf

Der Streit um die britischen, südafrikanischen und brasilianischen Virusmutationen erinnert frappant an einen ebenso berühmten wie erbittert geführten Kampf der Meinungen in der frühen Neuzeit, als sich der materialistische Philosoph und Arzt Julien Offray de La Mettrie mit der honorigen Ärzteschaft der Pariser Sorbonne anlegte – sein Thema: die Syphilis. Diese Plage der Menschheit hatte viele Namen, und den jeweiligen Seiten war es wichtig zu beweisen, dass jeweils jemand anderer die Schuld trägt.

Für die einen galt es als sicher, dass die Matrosen an Bord des Schiffes von Christoph Kolumbus die Seuche aus den neuen Kolonien nach Europa brachten, also die indigenen Völker schuld seien. Andere sahen die verschleppten Sklaven aus Afrika als erste Träger der Seuche. Später dann war es das französische Heer, das die Krankheit nach der Belagerung Neapels mit in die Heimat brachte, also waren die Italiener schuld. Dementsprechend vielfältig sind die Bezeichnungen für die Seuche im Volksmund: italienische Seuche, Franzosenkrankheit und so weiter. La Mettrie übrigens sah ihren Ursprung in Valencia, in Spanien also.

Albert Camus beschreibt in seinem Roman Die Pest die verschiedenen Stadien einer Pandemie sehr genau; die Phasen des Miteinanders, die von Misstrauen, Angst und schließlich Verzweiflung abgelöst werden. Am Ende dieser Entwicklung steht die Revolte. Es ist zu befürchten, dass diese Phase kurz bevorsteht. Infolge einer nie gefühlten Ohnmacht gegenüber einem unsichtbaren Feind wächst allerdings auch die Empörung über diese Hilflosigkeit, Wut und Ärger wirken als Brandbeschleuniger einer gespaltenen Gesellschaft, in der der Einzelne sich im Dickicht der unzähligen Meinungen nicht mehr auskennt und täglich ratlos in den Dashboards die Zahlenkolonnen vergleicht auf der Suche nach einem Funken Hoffnung.

Einige Krisenforscher sehen in dieser Krise bereits die große narzisstische Kränkung der westlichen Welt, da gerade die europäischen Staaten seit rund siebzig Jahren nichts als Aufschwung und Wohlstand kennen. Diese Kränkung treibt natürlich seltsame Blüten. Auf der einen Seite sieht man ein neues Biedermeier aufkommen, bedingt durch den zwangsweisen Rückzug in die eigenen vier Wände. Scrollt man sich durch die Pinnwände der Social-Media-Kanäle, so scheint es, als gebe es keine anderen Themen als Kochen, Essen und wahlweise Sonnenauf- oder -untergänge.

Monate der Schockstarre

Auf der anderen Seite aber blühen eben Wut, Hass und Geifer auf die jeweils anderen Meinungen, da man sich zur Selbstvergewisserung darüber im Klaren sein muss, auf der richtigen Seite zu stehen. Wie selbstverständlich teilt sich die Gesellschaft in böse und gute Bürger, die rücksichtslosen Virenschleudern und die rücksichtsvollen Allesvermeider, die Denunzianten und die Sorglosen, die Besserwisser und Neunmalklugen sowie die Verleugner und Wutbürger.

Es ist aber angesichts einer beispiellosen Krise, deren Folgen sozial, politisch und gesundheitlich noch nicht abzusehen sind, nicht so einfach, auf der richtigen Seite zu stehen. Wir werden nach weiteren anstrengenden, sich endlos hinziehenden Monaten der Schockstarre vielleicht wie Murmeltiere nach dem Winterschlaf etwas zerknittert aus unserer Höhle hervorkriechen, abgehalftert und verschlafen werden wir in eine zu helle Sonne blinzeln, ehe wir erkennen, dass mehr in die Brüche gegangen ist, als wir uns in unserem Furor und unserer Häme auf etwaige Sündenböcke zugestehen wollen.

Denn bleiben wird vor allem eines: das Misstrauen gegen eine Welt, die sich gar nicht einmal so unbemerkt und schon gar nicht ohne unser eigenes Zutun grundlegend verändert hat. (Bernd Schuchter, 5.3.2021)