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Die Autorin von "Komplett Gänsehaut", Sophie Passmann (27), wurde 2019 für ihren Schlichtungsversuch "Alte weiße Männer" bekannt. Vergangene Woche wurde ihre Sexismus-Doku "Männerwelten" für den diesjährigen Grimme-Preis nominiert.

Foto: Picturedesk.com / laif / Marcus Simaitis

Die Heldin des Romans Komplett Gänsehaut, 27 Jahre alt, ist gerade in eine neue Wohnung gezogen. Was für eine verheißungsvolle Zeit, schon erwachsen und doch noch so jung. Völlig frei, sich zu entwerfen – oder zumindest die Wohnung irgendwie so einzurichten, wie es vermutlich zu einer wie ihr passt, "mit pseudoasiatischer Futon-Klarheit" und "Bildern, die mit dem Raum arbeiten".

Alles steht dir doch noch offen – das sagen sie gern, die viel Älteren mit diesem Glänzen in den Augen, das nostalgische Erinnerungen an eigene, aufregendere, frühere Zeiten verrät. Dabei ist es doch so, dass die junge Erzählerin selbst eigentlich die meiste Zeit auch nur mit der Entscheidungsfindung verbringt, was sie auf Netflix schauen soll.

Der erste Roman der Autorin und Moderatorin Sophie Passmann, wie ihre Protagonistin ist auch sie 27, spielt in der Welt der Millennials. In der Welt der Kinder eines liberalen Bürgertums, deren Emotionen gegenüber einem guten Wein ungefähr in demselben Maß hochkochen wie bei Berichten über die Zustände in griechischen Flüchtlingscamps.

Passmann schreibt mit Abscheu und Scharfsinn über ein Milieu, das auch ihr eigenes ist. Durch die offenkundigen Ähnlichkeiten zwischen der Erzählerin des Romans und ihr selbst betreibt Passmann sehr bewusst dieses Verwechslungsspiel, was von Passmanns angenehmer Uneitelkeit in moralischen Belangen zeugt.

Man sieht die Autorin selbst vor dem inneren Auge, wie sie vor dem prall gefüllten Kühlschrank der Eltern steht und doch grantig wird, weil das eine von Mama gekochte Lieblingsessen fehlt – und wie sie gleichzeitig selbst dieses verwöhnte Kind in sich verabscheut.

Mit den deutschen oberen Mittelschicht-Kids, die dem Spießertum ihrer Eltern zwar nicht entkommen, es aber bestens verstehen, dieses erfolgreich in hippe Kulturtechniken zu verwandeln, will Passmann nicht wirklich ins Gespräch kommen. In ihrem erfolgreichen ersten Buch Alte weiße Männer. Ein Schlichtungsversuch gab es diese Bereitschaft noch.

Dieser Gesprächsband gab oft mehr über das völlig ungenierte Anspruchsdenken der Befragten preis, als sich diese bewusst darüber waren. Auch die Menschen in Komplett Gänsehaut erinnern manchmal an sie, logisch irgendwie, sind sie doch die Kinder der "alten weißen Männer", sagt Sophie Passmann im Gespräch mit dem STANDARD.

STANDARD: Viele müssen wohl unmittelbar an Thomas Bernhard denken, wenn sie Ihre literarische Analyse über ein bürgerliches Milieu lesen. Wie finden Sie das?

Sophie Passmann: Mein Buch wurde nun schön öfter mit Thomas Bernhard in Zusammenhang gebracht. Damit ist eigentlich schon alles passiert, was ich mir gewünscht habe, jetzt kann ich es also lassen. Ich bin ein großer Fan und ich fühle mich sehr geehrt.

STANDARD: Ihr Buch wird unter anderem als "literarischer Selbsthass" beschrieben. Wie ging es Ihnen in einem solchen Zustand beim Schreiben?

Passmann: Dieser Ton ist mir passiert, weil ich so großen Spaß beim Schreiben hatte. Bei jeder Assoziation und jeder Beobachtung dachte ich: Das muss jetzt auch noch rein, und dieses soziale Phänomen, das ich wirklich auf jeder Party sehe, auch noch. Ich war in einer großen Maßlosigkeit gefangen und hab mich wirklich in Rage gedacht und geschrieben. Ich vermute übrigens, wäre Bernhard in meiner Generation groß geworden, hätte es ihn auch zum literarischen Selbsthass getrieben, weil das zeitgeistmäßiger, näherliegender ist, als es das noch vor 60 Jahren war. Aber vielleicht trete ich ihm da auch zu nah, und mir schreiben gleich wütende Thomas-Bernhard-Experten, die mir erklären, dass das Unsinn ist.

STANDARD: Apropos Partys, die es inzwischen nicht gibt: Haben Sie schon vor Corona Ideen gesammelt?

Passmann: Ich hatte Corona-Glück im Gegensatz zu vielen anderen. Ich habe das Buch zwar während der Lockdowns fertiggeschrieben, konzipiert habe ich es aber Ende 2019. Deshalb waren die meisten Erinnerungen noch sehr wach, als ich mit dem Buch begonnen habe: Wie man in Bars war und dort das schlimme Leben beobachtete, auf Partys rumstand und hoffte, möglichst desinteressiert auszusehen. Heute sind diese Erinnerungen so nostalgisch wehmütig, dass ich nicht glaube, dass ich genügend Hass aufgebracht hätte, um die Performance dahinter so zu beschreiben, wie ich es in meinem Buch getan habe. Alles wäre deutlich sehnsüchtiger geworden. Und das wäre der Sache nicht gerecht geworden. So aber ist es ein von der Pandemie unabhängiger Text geworden, der allerdings mit der Aufmerksamkeitsspanne der Leute im Lockdown arbeitet. Man muss vor dem Buch keine Angst haben, weil vom fünften oder sechsten Lockdown das Hirn schon weich ist.

STANDARD: Ihrer Generation wird gern unterstellt, in sozialen Medien ständig eine Nabelschau zu betreiben. Die Erzählerin in Ihrem Buch beschreibt zwar auch ihr privates Leben, trotzdem kommt man ihr nicht sehr nahe. Woran liegt das?

Passmann: Das kommt durch diese bewusste Vermischung von Autofiktion und Roman. Es gibt eine Erzählerin, die aber nicht ich bin. Trotzdem hat sie so viele Parallelen zu mir, dass man ahnen kann, dass es eine Person ist, die mir sehr nahesteht. Ich wollte nicht, dass es so ein Generationen-Erklär-Buch wird, mit dem einem gesagt wird, "so sind wir übrigens, und das Internet ist folgendermaßen". Deswegen ist es literarischer geworden, als ich es eigentlich geplant hatte. Ich denke, Literatur ist der einzige Weg, mit der Erzählerin das zu machen, was sie verdient hat: Sie bei dieser absoluten "Ich hasse alles"- und "Ich weiß alles"-Haltung immer weiter zu demaskieren. Es war mir wichtig, dass es die Illusion von Nabelschau gibt, was sehr mit meiner Generation assoziiert wird.

STANDARD: Es gibt die Tendenz im Literaturbetrieb, nicht ständig nur der weißen oberen Mittelschicht das Wort zu erteilen. Sie schreiben genau darüber. Müssen wir uns deren Lebensentwürfe noch immer so genau ansehen?

Sophie Passmann "klaut" bei Benjamin von Stuckrad-Barre: "Ein weißes westdeutsches Mittelschichtskind hat es so einfach wie kein anderer im Literaturbetrieb."

Passmann: Diese Bestrebungen nehme ich schon auch wahr. Man muss aber dazusagen, dass das deutsche Feuilleton noch immer dieses Milieu unhinterfragt abfeiert. Ein Roman, in dem ein junger Mann durch die Gegend fährt – das ist immer noch ein Dauerbrenner. Auch wenn das Feuilleton glücklicherweise auch die verschiedenen Sprechpositionen, die man auch literarisch verarbeiten kann, heute ernster nimmt als noch vor ein paar Jahren. Trotzdem hat es ein weißes westdeutsches Mittelschichtskind so einfach wie kein anderer im Literaturbetrieb. Allein schon qua Habitus. Diese Frage hat mich vor dem Schreiben sehr beschäftigt, denn ich hätte es mir schwer vorstellen können, ein Buch zu schreiben, das genau in diesem Milieu spielt, ohne darüber zu sprechen, dass es eigentlich aus dem Zeitgeist fällt, dieses Milieu immer noch spannend zu finden. Darüber muss man reflektieren, das heißt aber nicht, dass man darüber nicht schreibt. Mein Weg ist, mit dieser ganzen vermeintlichen Prototyperfahrung auch hart ins Gericht zu gehen.

STANDARD: Sie sind mit einem kritischen Buch über alte weiße Männer sehr bekannt geworden. Ist in Ihrem neuen nun die junge weiße Frau an der Reihe?

Passmann: Ich habe gar nicht daran gedacht, dass man dieses Buch in Relation zu den alten weißen Männern sehen könnte. Aber das ist natürlich ein Punkt. Die Väter der Frauen, die in dem Buch vorkommen, sind alte weiße Männer. Man erfährt zwar nichts über diese Väter, aber wir erkennen sie dadurch, wie das Zuhause dieser Frauen beschrieben wird, man sieht diese Häuschen vor sich, die Klinkerfassaden und die Vorgärten, in denen am Wochenende mit den Nachbarn gegrillt wird. Man sieht diese komisch beklemmende deutsche Heimeligkeit. Es gibt keine Kontaktschuld mit den Eltern, das behauptet das Buch auch gar nicht. Aber der Habitus des alten weißen Mannes lässt sich nun mal vererben. Das heißt, die Kinder von alten weißen Männern sind erst mal durch ihre Privilegien, durch ihr kulturelles und soziales Kapital verdächtig.

STANDARD: Konsum spielt in Ihrem Buch eine zentrale Rolle. Die Bäckerei, zu der man geht, die Einrichtung, die Limonade, die man in hippen Lokalen aus Einweckgläsern trinkt. Ist der Konsum für die Mittelschicht das Mittel der Wahl zur Identitätsstiftung?

Passmann: Ja, es geht nicht nur darum, was man konsumiert, sondern auch um die Art und Weise des Konsumierens. Und das ist eine Erfindung der Millennials oder einer Unterform des Millennials, des Hipsters. Es ist nicht nur wichtig, welches Brot man kauft, sondern auch die selbstdarstellerische Entspanntheit, mit der man es kauft. Alles ist performativ, und alles hat mit Konsum zu tun. Analog zur Zunahme zum performativen Konsum gibt es quasi keine Freizeit mehr. Wir haben alle keine Hobbys. Dass einer sagt, ich fahr gern mit den Inlineskates nach Feierabend, das gibt es nicht mehr.

STANDARD: Fühlten sich Leute in Ihrem Umfeld beleidigt, dass Sie sie in Ihrem Buch als "Arschlöcher, die Rezepte aus dem Süddeutschen Magazin nachkochen", beschrieben haben?

Passmann: Der Nachteil an diesem Schreibfluss ist, dass ich manche Beobachtungen in dieses Buch geschrieben habe, ohne sie so richtig zu reflektieren. Das waren eher Automatismen. Denn alle diese Dinge, die ich teils voller Hass beschrieben habe, das sind ja auch ganz großartige Momente. Alle, die am Wochenende schon mal ein Rezept aus dem Süddeutschen Magazin nachgekocht haben, wissen, dass das total toll ist. Danach denkt man sich: Warum machen wir das nicht öfter? Wir waren auf dem Markt, haben Grapefruits gekauft und an verschiedensten Früchten gerochen. Dass ich das alles aber mit dieser Mischung aus Selbst- und Milieuhass runtergeschrieben habe, führte dazu, dass ich dann von meinen Freunden irritierte SMS bekam, sobald sie das Buch lesen durften und sich darin wiedererkannten. Natürlich sind alle aus diesem beschriebenen Milieu automatisch gemeint, das ist in meinen Augen aber ein bisschen gratismutige Anerkennung dafür, denn wenn man mit Schrot auf ein Milieu schießt, dann trifft man auch alle. (Beate Hausbichler, 6.3.2021)