Normalerweise ist weder die Welt der Alpen im Allgemeinen noch der Alpinismus im Speziellen für herausragende Fortschrittlichkeit berühmt. Bekannt sind die Älpler, wie Paul Flora einst seine Landsleute nannte, vor allem für traditionelles Patriarchat, für geschlossene Männerrunden, für Seilschaften aller Art und Couleur, für rurale Männerbünde und -pfründen. Normalerweise. Grund genug, den Fokus auf eine auch im 21. Jahrhundert noch relativ einzigartige und außergewöhnliche Initiative zu lenken.

"22 Frauen vom Berg und 22 Frauen aus dem Tal" werden anlässlich des 110. Weltfrauentags unter dem Motto "Aufmerksamkeit, Verantwortung, Tradition" – unter der Patronanz von Doris Schmidauer, ihres Zeichens Gemahlin von Bundespräsident Alexander Van der Bellen, Ministerin Doris Gewessler, Landeshauptfrau von Niederösterreich Johanna Mikl-Leitner, Bezirkshauptfrau von Neunkirchen Alexandra Grabner-Fritz und Wiens Kulturstadträtin Veronika Kaup-Hasler – vor den Vorhang, auf die Bühne des Wechsels, gebeten.

Der 100 Kilometer südlich von Wien gelegene Wechsel war – im Gegensatz zum Semmering, dem Balkon der Wiener, und Reichenau, dem Treffpunkt der Reichen und Schönen respektive von Hof und Adel – um 1900 innerhalb des Alpenmassivs eine Drehscheibe der k. u. k. Thronländer und liegt heute im geografischen Mittelpunkt der Europäischen Union.

Neben der solitären Kulturlandschaft besitzt der Wechsel bemerkenswerte Kraftplätze im Urgestein und, auch heute noch, unberührte Natur. Last, but not least wird die Schützhütte am Wechsel – das sogenannte Wetterkoglerhaus, das heuer sein 140-jähriges Bestehen feiert – seit 60 Jahren allein von Frauen betrieben.

Erika Sieder, Alexandra Maria Timmel, Johann Stuber, "Weiber Wirtschaft Wexel". DVD zum 110. Internationalen Weltfrauentag am 8. März 2021. 22,– Euro / 108 Minuten. AJAB-Film / Verlag Bibliothek der Provinz, 2021

Das war aber, wie man sich gut vorstellen kann, nicht immer so. "Frauen war laut den Statuten die Mitgliedschaft ausdrücklich untersagt, als im Jahr 1881 in Wien die alpin-humanitäre Tischgesellschaft ‚Die Ausflügler‘ gegründet wurde", erklärt die Kulturhistorikerin Erika Sieder, die Herausgeberin eines Buches über das Wetterkoglerhaus und einer DVD über die Weiber Wirtschaft Wexel.

Insgesamt schufen Erika Sieder und Regisseur Johann Stuber 44 Frauenporträts mit Einblicken in die unterschiedlichsten Berufe wie den einer Apothekerin, Harfenistin, Jägerin, Jodlerin, Kulturhistorikerin, einer Bürgermeisterin, einer Standesbeamtin oder einer Physiotherapeutin. Die Schauspielerin Alexandra Maria Timmel begleitet die 44 Frauen moderierend durch den Film, der die Essenz von 44 Stunden Material zu einem großen Ganzen webt.

Tradition und Insubordination

"Wir haben den ‚Weibern‘ gesagt, sie sollen einfach drauflosreden, erzählen, wer sie sind und wofür sie stehen. Es ist uns gelungen zu zeigen, was die ‚Weiber am Wechsel‘ für eine Wirtschaft anrichten", sagt Erika Sieder, die Präsidentin des Kulturvereins Wexel-Weiber, mit einem listigen Augenzwinkern.

Erika Sieder, Vroni Marx, "140 Jahre Wetterkoglerhaus". 18,– Euro / 72 Seiten. Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra 2021

Der Terminus der "Weiber" ist natürlich einerseits Zitat des ländlichen Idioms, andererseits selbstbewusst zu sehen – als Widerpart zur männlich dominierten Gesellschaft im Rest der Welt. Die Porträts zeigen luzide, "wer die Hosen anhat", was sich im Lauf der Zeit verändert hat, aber auch, was und vor allem wie viel unsere Gesellschaft noch vor sich hat, um endlich Gleichheit und Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern walten zu lassen.

Spiegelbild der Gesellschaft

Die gesellschaftlichen Metamorphosen, die Vorurteile und Ressentiments gegenüber Frauen, gegenüber Neuem und Fremdem, aber auch die Dekonstruktion des ländlichen Raums, der Verlust von Tradition und die Folgen des Klimawandels zählen zum Themenkreis.

Die bizarre Schönheit der Natur steht in Kontrast zur drohenden Zerstörung. In ihrem Buch dokumentieren Erika Sieder und Vroni Marx minutiös die wechselhafte diskursive Geschichte einer der ältesten Berghütten des Gebirgsmassivs. Der fein komponierte Band zeichnet naturgemäß auch eine Geschichte des Alpinismus. In ihrer außergewöhnlichen Dichte wird die Erzählung zum Symbol für Gesellschaft, Politik und Verantwortung. (Gregor Auenhammer, 6.3.2021)