Die Reaktorkatastrophe im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi, die sich vor zehn Jahren am 11. März 2011 ereignete, bleibt vor allem für die überlebenden Opfer dieser Tragödie unvergessen. An jenem Freitag erschütterte um 14.46 Uhr Ortszeit ein schweres Erdbeben der Stärke 9,0 die Ostküste Japans und löste einen riesigen Tsunami aus. Dessen Wassermassen rissen Menschen, Autos und Häuser bis zu zehn Kilometer ins Landesinnere mit. Der Tsunami traf mit fast 15 Meter hohen Wellen und enormer Wucht auch das Kernkraftwerk. Infolgedessen fielen Notstromversorgung und Kühlung der Reaktoren aus. Es kam zu einer Kernschmelze und schließlich zum befürchteten Austritt von Radioaktivität. Fast 20.000 Menschen kamen ums Leben, bis zu 160.000 mussten ihre Heimat verlassen, hunderttausende zurückgelassene Tiere verhungerten.

Messung der Radioaktivität beim Kraftwerk Fukushima Daiichi.
Foto: AFP/YOSHIKAZU TSUNO

Flucht nach Tokio

Nach der Reaktorkatastrophe sind viele der Evakuierten aus der Fukushima-Region in der 250 Kilometer entfernten Hauptstadt Tokio gestrandet. Die Familien, die früher in ländlicher Gegend in Häusern mit Gärten lebten, wohnen heute meist in kleinen, überteuerten Wohnungen der 37 Millionen großen Metropolregion. Als Nachbarn sind sie oft unerwünscht. In einem Beschäftigungscafé für ältere Menschen treffe ich eine 90-jährige, alleinstehende Frau. Sie sei die letzten Jahre mehrere Male innerhalb Tokios umgezogen, erklärt sie mir. Ihre Nachbarn hätten sie immer wieder gemieden und stets etwas dagegen gehabt, dass sie ihre Wäsche zum Trocknen auf den Balkon hänge – wohl aus Angst, dadurch verstrahlt zu werden. Da sie sich einsam fühlt, sehnt sie sich nach einer Rückkehr, doch ihr Heimatort ist heute eine verlassene Geisterstadt.

Keine Rückkehr in Sicht

heute 78-jährige Shoko Monma aus der, zum Kernkraftwerk nur neun Kilometer entfernten, ländlichen Ortschaft Namie lässt während unseres Gesprächs ihren Kaffee stehen. Sie möchte nur erzählen: "Genau um 14 Uhr 46 gab es ein starkes Erdbeben. Die zehn Leute im Computerkurs zitterten und hielten sich an den Schreibtischbeinen fest. Sobald das erste Beben aufhörte, rannten wir alle nach draußen. Um mit dem Auto nach Hause zu fahren, entschied ich mich spontan für die Bergstraße, weil ich dachte, dass die Route 6 sehr überfüllt sein wird. Diese Entscheidung rettete mir schließlich das Leben. Später hörte ich, dass eine Krankenschwester, die auf der Route 6 fuhr, vom Tsunami mitgerissen wurde!" Der örtliche Katastrophenschutz ordnete am nächsten Tag die Evakuierung an: "Wir sollten weit nach Westen fahren. Wir dachten, wir kommen in ein paar Tagen wieder zurück, deshalb nahmen wir nicht viel mit. Mein Mann litt sehr unter dem Verlust unserer Heimat. Er ist vor sieben Jahren gestorben, und meine 'Evakuierung' dauert nun schon zehn Jahre!"

Ausgrenzung und Schikanen

Oda Michiko, eine 82-jährige Aktivistin gegen Atomkraft, berichtet, dass Evakuierte aus Fukushima auch Ausgrenzung erleben. Die Ursache dafür vermutet sie im Unverständnis vieler Japaner für die Katastrophe und die Situation der Opfer. Die Evakuierten werden schikaniert, weil sie angeblich zu viel Entschädigung bekämen. Zusätzlich kritisiert sie die Maßnahmen der Regierung: "Die Gefahrenzonen wurden nur grob nach Entfernung vom Kraftwerk eingeteilt, nicht aber nach tatsächlicher Strahlenbelastung. Die Sicherheitsmaßnahmen sind unzureichend, der Lohn für die riskanten Dekontaminationsarbeiten, für die auch Obdachlose eingesetzt werden, ist gering. Die Organisation der Reinigungsarbeiten durch ein System verschachtelter Unternehmen ist folglich sehr kompliziert. Arbeitgeber haften selten für gesundheitliche Folgeschäden." Es wird geschätzt, dass in Japan nur ein geringer Teil der Bevölkerung ausreichend über die Gefahren von Radioaktivität informiert ist.

Auch nach zehn Jahren ist nichts unter Kontrolle

Katsutaka Idogawa war von 2004 bis 2013 Bürgermeister der Kleinstadt Futaba, die direkt am Kernkraftwerk Fukushima Daiichi liegt. Er war früher sogar von der Sicherheit des Kernkraftwerkes überzeugt. Seitens des Betreibers Tepco (Tokyo Electric Power Company) hieß es immer, ein Unfall sei ausgeschlossen! Seit dem 11. März 2011 zählt sich Idogawa zu den Gegnern von Kernkraftwerken. Er bemängelt, dass die Bevölkerung der Region nicht ausreichend über die Risiken aufgeklärt worden sei. Aufgrund des Mythos, es wäre alles sicher, gab es auch keinen, für eine solche Situation ausgearbeiteten Evakuierungsplan: "Sicherheit bestand für die Wirtschaft, nicht für die Menschen!" Dass noch Jahre danach Krebserkrankungen auftreten könnten, werde verschwiegen oder kleingeredet. Den aktuellen Schaden kann keiner beziffern, den offiziellen Zahlen misstraut Idogawa: "Ich weiß nicht, wie es weitergeht! Täglich entweicht Radioaktivität in die Luft, in den Boden und ins Meerwasser. Niemand weiß, wann sich diese Situation ändern wird."

Der ehemalige Bürgermeister von Futaba glaubt nicht daran, dass heute alles "unter Kontrolle" sei, und schon gar nicht, dass die Olympischen Spiele, die man teilweise in Fukushima abhalten möchte, dies symbolisch besiegeln sollten. (Nevin Altintop, 11.3.2021)