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Sträflich unterschätzt: Die Autorin Barbara Pym schrieb auch "Vortreffliche Frauen".

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"Frauenliteratur gibt es nicht. Genauso wenig wie Linkshänderliteratur, Rothaarigenliteratur, europäische Literatur, Literatur der Nordhalbkugel. All diese Kategorien sind ebenso groß wie bedeutungslos. Tragischerweise ist Frauenliteratur die einzige, die immer wieder als Knüppel hervorgeholt wird, mit dem man auf schreibende Frauen einschlagen kann.

Entweder ist Frauenliteratur kitschig und kuschelig, voller Kinder, Klamauk und Klamotten – oder Frauenliteratur ist krass und aggressiv, die Sorte Schmutz, die man von einer beleidigten Ex-Stripperin erwarten würde – oder Frauenliteratur dreht sich ausschließlich um verstopfte Abflüsse, Blutungen und Gruppentherapie bei Walgesang."

Zum Sommeranfang 2005 echauffierte sich die zum Polemisieren hochbegabte schottische Autorin A. L. Kennedy. Und nahm die "Fregatte Frauenliteratur" unter Beschuss. Dabei segelten unter dieser Flagge jenseits aller Kuschelkuppeln in modernen Klassikern von Frauen Themen, die sehr heutig sind – Rassismus, Sexismus, Geschlechterrolle, Geschlechtszuschreibung, Repression.

Olive Schreiner, "Die Geschichte einer afrikanischen Farm". Übersetzt von Viola Siegemund. 28,80 Euro / 608 Seiten. Manesse, München 2020
Cover: Manesse Verlag

"Der volle afrikanische Mond goss sein Licht aus dem tiefdunkelblauen Himmel hinab in das weite, verlassene Land." Zu Beginn von Olive Schreiners Roman Die Geschichte einer afrikanischen Farm liegen die nie um Widerspruch verlegene Lyndall, ihre Cousine Em und Waldo, der Sohn des Verwalters der Farm, auf der sie alle drei leben, im Gras. Sie sind noch Kinder, leben in der Karoo-Hochebene in Südafrika.

1883 erschien dieses nun neu übersetzte Buch, da war Schreiner, geboren im heutigen Südafrika, 28 Jahre jung. Sie veröffentlichte es unter einem männlichen Pseudonym, als "Ralph Iron", Ralf Eisen. Es wurde ein großer Erfolg. Sie publizierte bis 1911, bis chronisches Asthma weitere Arbeiten der Pazifistin, Feministin, Arbeitsrechtlerin und Demokratin unterband. Im Dezember 1920 starb sie.

Feministischer Bildungsroman

Die Geschichte einer afrikanischen Farm ist ein protofeministischer Bildungsroman, der seine Figuren über Jahre hinweg begleitet. Lyndall überschreitet bewusst alle konventionellen Rollenimages. Selbst als sie schwanger wird, will sie nicht heiraten. Natürlich spielen Kolonialismus und Unterdrückung eine essenzielle Rolle. Wie liest man dieses Buch heute, wenn einst gängige Ausdrücke inzwischen unverstellt rassistisch anmuten? Kommentar und Nachwort gehen darauf ein.

Viel stärker aber kreist diese Prosa um Emanzipation und Gleichberechtigung – manche Sätze würde man nicht von einer 1855 geborenen Frau erwarten, sondern von Simone de Beauvoir in Das zweite Geschlecht von 1949.

Das Unrecht in erster Linie ist: zur Frau gemacht zu werden. Dazu kommen in vielen Vignetten Bigotterie und Verbohrtheit. Dass der Manesse-Verlag einen älteren Aufsatz Doris Lessings beigebunden hat, ist ein Manko – ein aktuelles Nachwort wäre hilfreicher gewesen, eines, das weniger schwärmerisch wäre und mehr auf Kontext, Entstehungszeit und Folgen einginge.

Fluide Geschlechterzuordnung

Ein Jahr nach Schreiners Roman erschien ein Roman, in dem eine Frau sich in ein Mädchen verliebt, das ein junger Mann ist. Marguérite Eymery, geboren 1860, schrieb als "Rachilde" und brachte Monsieur Vénus in Brüssel heraus, dort konnte die französische Zensur nicht einschreiten. Die adlige Raoule de Vénérande begehrt einen Kunstblumenhersteller namens Jacques Silvert. Dieser wird immer mehr zur Frau.

Rachilde, "Monsier Vénus". Materialistischer Roman. Übersetzt von Alexandra Beilharz und Anne Maya Schneider. 18,50 Euro / 224 Seiten. Reclam, Ditzingen 2020
Cover: Reclam Verlag

Geschlechtszuordnung wird fluid, bald liebt er sie "aus wahrem Frauenherzen". Das soziale Geschlecht wird anders, auch der biologische Körper. Seinerzeit heftig geschmäht und mit patriarchalischer Herablassung traktiert – die übrigen fünf Dutzend Prosaarbeiten der 1953 verstorbenen Autorin sind größtenteils ins Vergessen abgedrängt –, ist dies ein erstaunlicher Fund queerer Literatur.

Ebenso erstaunlich der lebendig daherkommende Debütroman Lolly Willowes oder Der liebevolle Jägersmann von Sylvia Townsend Warner aus dem Jahr 1926. Laura Willowes, die alle Lolly nennen, ziemlich gebildet, nicht herausragend hübsch, wird nach dem Tod des Vaters die Stütze im Haushalt ihres in London lebenden Bruders. 20 Jahre lang.

Dann, mit Ende 40, reicht es ihr – allein zieht sie aufs Land und führt ein selbstbestimmtes, gänzlich selbstständiges Leben. Bis Neffe Titus zu ihr ziehen will. Dann tritt in Teil zwei der "liebevolle Jägersmann" auf, der Teufel. Das Dorfleben, bis dato eher leicht skurril, wird zum Hexensabbat, der Wald zur surreal wildbelebten Stätte, selbstverständlicher Zufluchtsort für Lolly.

Gefühlswirrwarr

Das ist hochamüsant, auch leicht boshaft, vor allem ist es fantasievoll. Woher, erkundigte sich die von der Lektüre begeisterte Virginia Woolf einst bei Warner, würde sie denn so viel über Hexen wissen? "Weil ich selber eine bin." Vexatorisch war auch die Produktionswut der studierten Musikologin Warner (1893–1978) – einen Studienaufenthalt bei Schönberg in Wien hatte der Erste Weltkrieg durchkreuzt –, Romane, Lyrik, Biografien, Musiktheoretisches, die sich 1937 mit ihrer Partnerin in einem Dorf in Dorset niederließ.

Was soll uns das interessieren? Zwei Damen fortgeschrittenen Alters, etwa Mitte Ende 40, die in den späten 1950er-Jahren in Barbara Pyms Roman In feiner Gesellschaft in London ihr Geld damit verdienen, Register für wissenschaftliche Bücher zu erstellen, und an einem wissenschaftlichen Kongress teilnehmen. Die eine ist noch immer still und leise unglücklich verliebt in ihren einstigen Chef, den gutaussehenden Alwyn Forbes, die andere hat das große Haus ihrer Eltern geerbt.

Sie hofft, dass ihre Nichte, die eine Sekretärinnenschule besuchen will, bei ihr einzieht, was auch geschieht. Und dann zieht auch Viola Stint, die andere Registererstellerin, ein. Dazu kommen: Forbes’ Bruder, ein gutaussehender Geistlicher, für den die Frauen trotz Zölibats entflammen, ein verstaubtes Hotel an der Südwestküste Englands, innerlich ausgefochtene Gefühlsleben, denen nach außen hin keinerlei Strahlkraft eignet, souverän ungeordneter Gefühlswirrwarr.

Frauenschicksale

Barbara Pym (1913–1980) war selber ihr ganzes Berufsleben, von 1946 bis zur Pensionierung 1974, Hilfs- und Assistenzredakteurin einer wissenschaftlichen Zeitschrift, die das International African Institute in London herausgab. Mit In feiner Gesellschaft, das Original hieß 1961 No Fond Return of Love, schrieb sie einen Roman, in dem es am Ende alle ebenso machen wie die andren, così fan tutte.

Barbara Pym, "In feiner Gesellschaft". Übersetzt von Sabine Roth. 20,60 Euro / 352 Seiten. DuMont, Köln 2020
Cover: DuMont Verlag

Auch Pym hatte ein durchaus typisches Schriftstellerinnenschicksal. Den auf In feiner Gesellschaft folgenden Roman An Unsuitable Attachment, ihr bibliografisch betrachtet siebtes Buch, lehnte ihr Stammverlag ab, die Verkäuflichkeitseinschätzung tendierte gegen null. Sie bot ihn anderen Häusern an – mit dem gleichen Resultat.

In den folgenden 15 Jahren wurde keines ihrer Manuskripte mehr veröffentlicht. Erst ihr langjähriger Korrespondenzpartner, der Lyriker und Bibliothekar Philip Larkin, lancierte sie 1977 im Zuge einer Umfrage des einflussreichen Times Literatury Supplement nach sträflich unterschätzten englischen Romanen.

Späte Anerkennung

Postwendend wurden Londoner Verlage vorstellig, ihr Roman Quartet in Autumn erschien noch im Herbst desselben Jahres und wurde sogleich für Großbritanniens wichtigste Literaturauszeichnung, den Booker Prize, nominiert. Nachauflagen ihrer älteren Bücher folgten rasch.

Erfolg und Anerkennung konnte die seit mehreren Jahren an Krebs Erkrankte nicht lang auskosten, Barbara Pym starb am 11. Jänner 1980. Zehn Jahre später wurde sie hierzulande entdeckt; und dann wieder vergessen. Vor fast 30 Jahren verlegte der Piper-Verlag einige von Pyms Romanen. In Großbritannien hat der Virago-Verlag das Publikum für Pym vergrößern können.

Denn sie gehört in eine Klasse mit Nancy Mitford oder Iris Murdoch. Pyms Prosa funkelt, obschon die Frauen mit langweiliger Kleidung und kuriosen Hüten unterwegs sind. Das London des Romans war wenige Jahre später untergegangen, verdrängt durch Pop, Plastikmöbel, Miniröcke.

Verdankt sich der Versuch einer Wiederentdeckung nun Nostalgie? Oder ist es nicht so, dass Pym-Romane zu lesen ebenso glanzvoll vergnüglich ist wie Anthony Powell und dessen Romanzyklus A Dance to the Music of Time? Großartige Dialoge, memorable Charaktere, subtil einfühlsame Psychogramme, angenehm kluge Dramaturgie, durch und durch intelligent, dabei niemals hochfahrend überheblich, innere Konflikte, die überzeitlich sind und noch immer aufwühlend.

Und vor allem: von mitfühlender Ironie. Denn die hin- und hergerissenen Figuren werden an keiner Stelle denunziert, zerrissen, zerlacht. Vielmehr erscheinen sie sehr menschlich, also schwach, wo sie entscheidungsstark sein müssten, und stark, wenn das längst keine Rolle mehr spielt.

Frei sein

Lucia Berlin, "Abend im Paradies". Erzählungen. Übersetzt von Antje Rávik Strubel. 13,30 Euro / 288 Seiten. Kampa-Verlag, Zürich 2020
Cover: Kampa Verlag

Um Selbstbestimmung geht es auch in dem nun als Paperback nachgedruckten Band Abend im Paradies, der nach 1980 geschriebene, postum zusammengestellte Erzählungen von Lucia Berlin (1936–2004) enthält. Aber auch um Glückssucher und am Glücksverfehlen Verzweifelnde. Dass ihr Sohn Mark mit seinem Vorwort voll aufdringlich autobiografischer Querverweise zwischen ihren miesen Jobs, Alkoholismus und falschen Männern den Storys einen Bärendienst erweist, liegt auf der Hand.

Am besten überblättert man dies, um sich in Berlins dichte, lakonische beziehungspräzise, von trockenem Humor imprägnierte Prosa zu vertiefen. Es ist der Schlussstein des eindrucksvollen Werks einer zu Lebzeiten fast ignorierten, erst 2015 wiederentdeckten großen Autorin. (Alexander Kluy, 6.3.2021)