Das ist das klischeehafte Bild, das man kennt: Die Mädels, in dem Fall Lisa und Lena, tanzen zu knalliger Popmusik. (Hier 1:1 ein Video, das auf Tiktok in einem Reel auf Instagram geteilt wurde.)

Zuerst einmal: Verzeihen Sie bitte den etwas provokanten Titel. Aber so ist das nun einmal in unserer schnelllebigen Zeit. Wer nicht innerhalb der ersten Sekunde(n) überzeugt, der wird weitergewischt und nie wieder angeschaut. Gut, Sie lesen diesen Text gerade in einer Zeitung, das ist ein schlechtes Beispiel.

Auf den Kurzvideodienst Tiktok passt diese Zuschreibung aber wie die Faust aufs Auge. Tiktok, das ist die App, die in klassischen Medien vor allem kritisch beäugt wird – und das zu Recht. Datenkrake, Einladung für Hackerangriffe, chinesisches Spionageportal, mittlerweile hat man fast alles darüber gelesen. Für einen Großteil der Bevölkerung ist sie aber vor allem eines: zu jung.

Das ist nachvollziehbar. Öffnet man die App das erste Mal, poppt sofort ein Video auf, in dem ein minderjähriges Mädchen (das Mindestalter von Tiktok liegt bei 13) zu den Tunes eines generischen Popsongs zappelt und dafür abertausende Lobpreisungen in den Kommentaren und noch mehr digitale Herzchen erhält. Erst ein Klick auf das "Entdecken"-Feld erlaubt ein kurzes Durchschnaufen – und zeigt: So viel anders als auf anderen Social-Media-Plattformen geht es auch hier nicht zu.

Doch das geht auch anders: "Heeyleonie" klärt auf Tiktok über Blackfacing auf.
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Wie die Simpsons

Der größte Unterschied: In der Kürze liegt die Würze. Maximal 60 Sekunden darf ein Clip dauern, die meisten sind nur rund zehn Sekunden lang. Deswegen erinnert das alles stark an Vine. Erinnern Sie sich daran? Bei Vine waren Clips nur sechs Sekunden lang und sollten so etwas wie Comedy sein. Nachdem das Portal 2012 von Twitter gekauft wurde, war aber schnell Schluss mit lustig.

In der Kürze der Clips liegt auch das Erfolgsgeheimnis von Tiktok. Wer hier zum Star werden will (und das sind viele der 800 Millionen Nutzer), der muss von der ersten Sekunde an performen. Wilde visuelle Effekte, ein irrer Song, ein abgefahrener Filter, egal. Hauptsache, die Leute bleiben dran. Bevor Sie das verurteilen – haben Sie sich schon einmal gefragt, warum die Simpsons gelb sind? Angeblich wollten die Macher mit der Signalfarbe erreichen, dass man beim Zappen eher hängenbleibt. Der Rest ist Geschichte.

Als Erwachsener stellen Sie jetzt natürlich die Sinnfrage: Was bitte will man in dieser Kürze vermitteln? Meist nicht viel mehr als Unterhaltung. Aber das ist ja auch schon etwas. Ganz so unschuldig ist Tiktok aber nicht. Immer wieder kommt es in den Kommentaren zu Sexismus oder Cybermobbing – und das im Zusammenhang mit Minderjährigen.

Ein Beispiel für den Algorithmus: Mein Feed besteht zum großen Teil aus Gitarren- ...

Ab auf die Rutsche

Trotzdem gibt es Accounts oder Hashtags, die versuchen, über die Plattform sinnvolle Inhalte an die junge Hauptzielgruppe zu vermitteln. So gibt es etwa in Kooperation mit dem gleichnamigen Bildungs- und Empowermentprojekt aus Berlin den Hashtag #EachOneTeachOne, unter dem vor allem schwarze, afrikanische und afrodiasporische Menschen über Diversität und den Black History Month aufklären – und das auf eine Art und Weise, wie sie für junge Leute spannend ist.

... und Hundevideos.
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Zugegeben, nach derlei Inhalten muss man suchen und den Algorithmus darauf trainieren. Aber es geht. Mein Feed etwa ist eine Mischung aus kurzen Porträts interessanter Persönlichkeiten, Gitarrenvideos und Hundeclips (okay!).

Übernimmt man das Algorithmustraining nicht selbst, dann empfiehlt die App eben nur die erfolgreichsten Kurzvideos – und da wird eben meist getanzt. Aber selbst diese Videos, und vertrauen Sie mir, ich wollte es am Anfang auch nicht glauben, entwickeln schnell eine Sog-, ja fast schon Suchtwirkung. Ein Wisch nach oben reicht, und die Unterhaltung für die nächsten Sekunden, Minuten, Stunden ist gesichert. Tiktok ist wie eine verdammt steile Wasserrutsche. Hat man einmal Geschwindigkeit aufgenommen, ist es sehr schwer anzuhalten.

Und dann wäre da auch noch dieses mächtige und kostenlose Schnittprogramm, das kreativen Menschen hier zur Verfügung steht. Tiktok braucht keine aufwendigen Produktionen oder Budgets. Wer eine Idee hat, kann sich fast sicher sein, dass sie mit Tiktok umsetzbar ist.

Am besten endet so ein Video natürlich mit einem Knall. Aber ich glaube, wenn Sie bis hierhin gelesen haben, dann verstehen Sie, was ich vermitteln wollte. Also Schluss mit Provokation: Sie sind nicht zu alt für Tiktok. Niemand ist das. (Thorben Pollerhof, 9.3.2021)