Die Verfügbarkeit von Corona-Impfstoff steht in Europa offenbar gerade vor einem Wendepunkt, wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im STANDARD-Interview deutlich macht: "Ab April könnten sich die Mengen nach den Plänen der Hersteller noch mal verdoppeln". Das bedeute: "Das wären im zweiten Quartal im Schnitt rund 100 Millionen Dosen pro Monat, insgesamt 300 Millionen bis Ende Juni", sagt von der Leyen.

Die Präsidentin warnt wegen der Virusvarianten aber vor vorschnellem Optimismus und mahnt im Zusammenhang mit den zusätzlich für die Tiroler Gemeinde Schwaz bereitgestellten Impfdosen Solidarität ein. Kritik an der Israel-Reise von Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) übt sie nicht.

STANDARD: Als Sie 2019, nur wenige Monate vor Ausbruch der Corona-Pandemie, ins Amt kamen, haben Sie sich Ihre Arbeit hier vermutlich ganz anders vorgestellt. Wie haben Sie das seither erlebt, wie ordnen Sie das ein?

Von der Leyen: Für mich war es anfangs ein Gefühl wie Nach-Hause-Kommen, weil ich meine Kindheit in Brüssel verbracht habe. Da kam eine Flut von Kindheitserinnerungen. Politisch war gleich klar, dass in Europa vieles ganz anders ist als in der vorherigen Periode der Kommission. Das Europäische Parlament ist heute viel vielfältiger aufgestellt, und auch aufseiten der Mitgliedsstaaten waren EU-Skeptiker im Aufwind. Die vorangegangenen Krisen hatten tiefe Spuren hinterlassen, dazu kam der drohende harte Brexit. Das war die Begleitmusik, mit der ich angefangen habe. Ich wusste also, was auf mich zukommt, und habe mich trotz allem mit Freude in die Arbeit gestürzt.

"Ich wusste also, was auf mich zukommt, und habe mich trotz allem mit Freude in die Arbeit gestürzt."
Foto: imago images/Xinhua

STANDARD: Meinen Sie, von Anfang an also dringlicher, viel dichter mit Problemen belastet, und dann die Corona-Krise obendrauf?

Von der Leyen: Einerseits waren die Probleme dichter, aber andererseits auch die Chancen groß, wichtige Weichen für Europa zu stellen. Mir war völlig klar, dass wir dringend gegen den Klimawandel handeln müssen und dass wir einen Boost für die digitale Aufstellung Europas brauchen. Deswegen habe ich noch vor Beginn der Krise den europäischen "Green Deal" auf den Weg gebracht und die Digitalisierung als Schwerpunktthema für die diese Dekade gesetzt.

STANDARD: Wie es aussieht, ist es aber die Pandemie, die als Thema alles andere überragt. Wie sehr beansprucht Sie das, wie viel Raum bleibt da noch für anderes?

Von der Leyen: Die Corona-Krise dominiert natürlich derzeit den Alltag. Dadurch werden die anderen Themen aber nicht weniger dringend. Der Klimawandel macht keine Pause wegen Corona. Die Digitalisierung hat sogar gewaltig an Zug gewonnen während dieser Krise. Jetzt sieht jeder, wie viel da zu tun ist. Wie sehr wir auf die Technologie angewiesen sind, auf die großen Internetplattformen und den Datenschutz. Dazu kommt die schwere wirtschaftliche Krise. Wir wollen deshalb rasch unser Investitionsprogramm "Next Generation EU" auf den Weg bringen. Die Themenbreite der EU geht noch viel weiter – bis zu den Sanktionen gegen Russland wegen Alexej Nawalny.

"Die Digitalisierung hat sogar gewaltig an Zug gewonnen während dieser Krise"

STANDARD: Wenn man mit Regierungschefs spricht, schildern die, dass die Corona-Krise gut 70 bis 80 Prozent ihrer Arbeitszeit beansprucht. Bei Ihnen auch?

Von der Leyen: Das passt, das kommt hin. Ich habe inzwischen einen Rhythmus, dass man fast nicht mehr auf die Uhr und den Wochentag schaut.

STANDARD: Nur ein paar Stunden Schlaf jede Nacht?

Von der Leyen: Ja, ich wohne hier im Kommissionsgebäude. Das heißt, auch an vielen Wochenenden geht es durch. Mal ausschlafen und regelmäßige Joggingrunden sind schon ein Luxus, aber enorm wichtig für die Seele. Aber das geht allen anderen, die derzeit Verantwortung tragen, auch so. Es ist Krisenzeit, und da gibt es keine Pause.

STANDARD: Wie lange wird die Corona-Krise uns noch derart belasten, was ist Ihre Einschätzung?

Von der Leyen: Wir werden wahrscheinlich weltweit noch lange mit dem Virus zu tun haben. Aber wir arbeiten mit ganzer Kraft daran, dass wir aus dem Krisenmodus herauskommen, der die Menschen so belastet.

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"Uns machen die Virusvarianten große Sorgen. Derzeit helfen die Impfstoffe gut."
Foto: AP Photo/Jessica Hill

STANDARD: Was konkret meinen Sie damit?

Von der Leyen: Uns machen die Virusvarianten große Sorgen. Derzeit helfen die Impfstoffe gut. Aber wir wissen, dass jederzeit irgendwo eine Mutation auftreten kann, die resistent ist gegen die Impfstoffe, die wir heute haben. Daher bauen wir jetzt schon Strukturen auf, um die Produktion der bestehenden Impfstoffe hochfahren und zudem Impfstoffe auch auf das nächste Level bringen zu können. Dazu arbeiten wir eng mit den großen Pharmafirmen zusammen, unterstützen deren Forschung. Und die Zulassungswege müssen verkürzt werden. Das geht über einen schnelleren Datenaustausch. Regelmäßige Impfung gegen Corona und seine Varianten könnten auf Dauer zur Norm werden, wie wir es zum Beispiel von der Influenza kennen.

STANDARD: Impfstoffe sollen also auf eine breitere Basis gestellt werden. Es soll mehr davon geben, ständig weiterentwickelt, rasch verfügbar. Ist das die neue Formel?

Von der Leyen: Das ist richtig. Ich treffe mich regelmäßig mit den Vorstandsvorsitzenden der sechs erfolgreichsten Impfstoffproduzenten. Die Firmen wollen mit dem neuen Hera-Inkubator zusammenarbeiten, der unsere Antworten auf das sich verändernde Virus beschleunigen kann.

STANDARD: Ein Programm zur besseren Erforschung des Coronavirus. Was ist das?

Von der Leyen: Erstens müssen wir die Veränderung des Virus verfolgen, das ist das Sequenzieren. Zweitens müssen diese Daten Wissenschaft und Forschungsabteilungen der Firmen zur Verfügung stehen. Und wir unterstützen sie darin, die Impfstoffe anzupassen. Drittens haben wir jetzt ein Netzwerk für klinische Studien in Europa gestartet, um, wenn nötig, neue Impfstoffe zu testen. Viertens straffen wir in der EMA, unserer Zulassungsbehörde, die Prüfverfahren. Fünftens fahren wir die Produktionskapazitäten in ganz Europa hoch, um weniger von Lieferketten außerhalb der EU abhängig zu sein.

STANDARD: An der Kommission hat es zuletzt harte Kritik gegeben, weil Produktion und Lieferung von Impfstoff so träge angelaufen sind. Was ist schlecht gelaufen und was gut, was muss auf jeden Fall anders werden?

Von der Leyen: Gut gelaufen ist in der Rückschau, dass wir gleich auf die richtigen Impfstoffe gesetzt haben. Vor einem Jahr gab es weltweit noch 100 bis 150 Projekte, die Impfstoffe gegen Corona entwickeln wollten. Wir haben in die Firmen investiert, die heute weltweit vorne liegen, angefangen bei Biontech bis hin zu Johnson & Johnson. Die Wissenschaft hat mit ihrer Rekordzeit bei der Impfstoffentwicklung aber quasi die industrielle Seite überholt. Wir haben alle unterschätzt, dass das Hochfahren einer stabilen Massenproduktion mit erheblichen Risiken behaftet ist. Engpässe bei Rohstoffen oder in Zulieferketten schnellstmöglich zu beseitigen, das war schwerer und holpriger als erwartet. Deshalb ging es am Anfang sehr schleppend los. Das ist deutlich besser geworden. Im Jänner wurden rund 20 Millionen Dosen geliefert, im Februar rund 30, und für März erwarten wir rund 50 Millionen. Ab April könnten sich die Mengen nach den Plänen der Hersteller nochmal verdoppeln, auch weil weitere Impfstoffe vor der Zulassung stehen, das wären im zweiten Quartal im Schnitt rund 100 Millionen Dosen pro Monat. Das erwarten wir nach den derzeitigen Angaben, insgesamt 300 Millionen bis Ende Juni.".

"Wir haben alle unterschätzt, dass das Hochfahren einer stabilen Massenproduktion mit erheblichen Risiken behaftet ist."

STANDARD: Hätte man es deutlich besser machen können, hat man die europäische Produktion überschätzt?

Von der Leyen: Die europäische Produktion kann sich sehen lassen. Biontech/Pfizer hat seine Hauptproduktion hier und wird auch in die ganze Welt exportiert. Die Lehre aus all dem ist, wir müssen für Pandemien Produktionskapazitäten auf Vorrat haben. Und der Zusammenhalt in der Krise ist wichtig. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es heute in Europa aussähe, wenn einige wenige große Staaten jetzt vielleicht Impfstoffe hätten und die meisten kleineren Mitgliedsstaaten erst einmal leer ausgegangen wären. Das hätte Europa zerrissen und den Binnenmarkt zerstört, von dem wir alle leben. Deshalb bin ich nach wie vor der tiefen Überzeugung, dass die europäische Herangehensweise die richtige war.

STANDARD: Einige Mitgliedsstaaten verlieren gerade die Geduld, Österreich und Dänemark gehen eigene Wege. Ungarn und die Slowakei blinken zum Abbiegen. Gerät da etwas ins Rutschen bei der gemeinsamen Impfstoffstrategie?

Von der Leyen: Die Regierungschefs von Österreich und Dänemark waren gerade in Israel, um von einem guten Beispiel zu lernen. Israel hat wie auch Dänemark keine eigenen Produktionsstätten für Corona-Impfstoffe. Wenn nun die Lehre daraus ist, eigene Produktionskapazitäten aufzubauen, zum Beispiel in Dänemark oder in Österreich, dann kann ich das mit ganzer Kraft nur unterstützen, denn das brauchen wir. Daran arbeiten wir im Hera-Inkubator der EU, den ja auch Österreich und Dänemark ausdrücklich unterstützen.

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"Die Regierungschefs von Österreich und Dänemark waren gerade in Israel, um von einem guten Beispiel zu lernen."
Foto: AP Photo/Francisco Seco

STANDARD: Aber warum ist Israel beim Impfen so viel besser?

Von der Leyen: Der Impfstoff für die knapp neun Millionen Einwohner stammt aus Europa. Was Israel so besonders macht, ist, dass das gesamte Gesundheitswesen voll digitalisiert ist und offenbar eine besondere Vereinbarung mit dem Pharmakonzern getroffen hat. Die beim Impfen erhobenen Gesundheitsdaten der Bürgerinnen und Bürger wurden wie in einer großen klinischen Studie der Firma zur Verfügung gestellt. Wenn eine Lehre dieser Reise ist, dass auch wir unsere Gesundheitssysteme so schnell wie möglich voll digitalisieren, um künftig schneller auf Risiken reagieren zu können, dann hat das meine volle Unterstützung. Man könnte sogar EU-Gelder von "Next Generation EU" dort einsetzen, denn genau auf solche Projekte sind sie ausgerichtet.

STANDARD: Wie ist das mit Ungarn? Premier Viktor Orbán ließ sich demonstrativ chinesischen Impfstoff spritzen, der in der EU gar nicht zugelassen ist.

Von der Leyen: Ungarn ist ein ganz anderer Fall. Es hat angekündigt, große Mengen des chinesischen und des russischen Impfstoffs einzusetzen. Wenn ich mir allerdings die Zahlen ansehe, dann ist in Ungarn im Moment etwa das verimpft worden, was wir an geprüftem europäischem Impfstoff geliefert haben. Deswegen frage ich mich im Augenblick, wo eigentlich die zusätzlichen Dosen geblieben sind.

STANDARD: Kanzler Kurz hat sich vor seinem Besuch in Israel sehr kritisch zur EU geäußert, hat erklärt, dass die Impfstoffversorgung nicht funktioniere, Österreich deshalb eine Produktion ankurbeln wolle. Sind Sie da von ihm enttäuscht? Was erwarten Sie von ihm?

Von der Leyen: Nein, die Zusammenarbeit mit Kanzler Kurz ist sehr gut. Er betont auch immer wieder, wie wichtig es für kleinere Mitgliedsstaaten ist, die ganze Kraft einer Union von 450 Millionen Bürgerinnen und Bürgern zu haben. Das gibt auf der internationalen Bühne nicht nur in Handelsfragen eine völlig andere Verhandlungsmacht, als wenn ein kleinerer Mitgliedsstaat allein auf sich gestellt ist.

STANDARD: Die Kommission hat in einer Sonderaktion Impfstoff für den Bezirk Schwaz in Tirol bereitgestellt, wo es einen großen Cluster der Virusmutation aus Südafrika gibt. Warum?

Von der Leyen: Mit war sehr wichtig, in dieser Lage helfen zu können. Ich habe meine ganze Überzeugungskraft gegenüber den anderen 26 Mitgliedsländern eingesetzt, dass wir für Tirol in dieser außergewöhnlichen Notsituation 100.000 Impfdosen vorziehen. Dass das trotz der auch anderswo angespannten Lage möglich war, zeigt, wie Europa ist. Es geht immer wieder darum, nicht nur die gemeinsame Kraft, sondern auch die gemeinsame Solidarität zu zeigen. Wenn wir lernen aus dieser Impfkampagne gegen diese südafrikanische Impfvariante, dann profitieren wir alle davon.

"Ich habe meine ganze Überzeugungskraft gegenüber den anderen 26 Mitgliedsländern eingesetzt, dass wir für Tirol in dieser außergewöhnlichen Notsituation 100.000 Impfdosen vorziehen."

STANDARD: Wie ist zu verstehen, dass diese 100.000 Dosen zusätzlich geliefert werden? Dass Österreich das jetzt sofort bekommt und das später einmal mit dem gesamten Kontingent abgerechnet wird, es aber am Ende nicht wieder eine Knappheit an Impfstoff geben wird?

Von der Leyen: Das ist unter allen Mitgliedsstaaten abgesprochen, dass Österreich diese Dosen erhält, so wie die Slowakei und Tschechien, die auch in einer außergewöhnlichen Notsituation sind. Die werden jetzt vorgezogen, sie kommen aber aus Steigerungen bei Lieferungen von Biontech. Es wird damit keinem anderen Mitgliedsstaat etwas weggenommen. Wir haben einen Aufwuchs bei den Lieferungen, davon sind diese 300.000 Dosen vorgezogen worden, weil sie jetzt einen erheblichen Unterschied machen können.

STANDARD: Zu Dänemark und Ungarn: Sie haben nicht das Gefühl, dass da zwei Mitgliedsstaaten aus der gemeinsamen Initiative ausscheren und der gemeinsame Ansatz erodiert?

Von der Leyen: Nein, im Gegenteil. Es gibt gerade in einer so schweren Krise immer wieder Versuche, bessere Beispiele in der Praxis zu finden. Unterm Strich wissen wir doch, dass man eine solche weltumspannende Krise nicht national bewältigen kann, sondern nur, wenn wir fest zusammenhalten.

STANDARD: Wir haben jetzt viel über Regierungen und Politiker gesprochen. Entscheidend ist aber doch die Sorge der Bürger, für die die Versorgung mit Impfstoff existenziell ist. Da gibt es zunehmend die Stimmung, das funktioniere nicht, Brüssel könne das nicht, insbesondere in Deutschland und Österreich. Was ist Ihre Erklärung dafür?

Von der Leyen: Diese lange Krise ist für alle eine sehr belastende Zeit. Ich glaube nach wie vor, dass der gemeinsame europäische Weg richtig ist. Und ich finde wichtig, dass wir in dieser kritischen Phase nach vorne und nicht gegeneinander arbeiten. Kritik gehört dazu, und auch, dass wir zum Schluss Bilanz ziehen. Aber wir haben im letzten Jahr auch erlebt, wie chaotisch es losging, weil alle Staaten nationale Maßnahmen ergriffen haben, die nicht abgestimmt waren, der Warenfluss in Europa zusammenbrach. Europa hat dann für die grünen Fahrspuren für Transporte gesorgt. Die erlauben bis heute trotz aller Schwierigkeiten, dass die Supermarktregale gefüllt sind, der Binnenmarkt aufrechterhalten ist. Gerade der österreichische und süddeutsche Mittelstand ist in ganz Europa vernetzt. Ohne die Zulieferer und Absatzmärkte der EU stehen alle Räder still. Es ist ein Glück, dass wir die EU haben.

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"Die Zusammenarbeit mit Kanzler (Sebastian) Kurz ist sehr gut. Er betont auch immer wieder, wie wichtig es für kleinere Mitgliedsstaaten ist, die ganze Kraft einer Union von 450 Millionen Bürgerinnen und Bürgern zu haben."
Foto: REUTERS/Johanna Geron/Pool

STANDARD: Warum bleibt der schwarze Peter trotzdem meist bei der EU?

Von der Leyen: Wir reden wenig darüber, was gut läuft. Vor einem Jahr dominierten die bitteren Diskussionen zwischen den Mitgliedsstaaten um die Frage, wie wir den wirtschaftlichen Wiederaufbau schaffen können. Stichwort Corona-Bonds. Es gab die tiefe Sorge, dass Norden und Süden sozial und wirtschaftlich auseinanderfallen. Da hat es die Kommission mit der Idee zu "Next Generation EU" geschafft, Europa hinter einem Vorschlag zu vereinen. Dieser gemeinsame Fonds von 750 Milliarden Euro hilft allen 27 Volkswirtschaften aus der Krise und steuert Investitionen für die nächste Generation. Ich mag mir nicht vorstellen, welche Klüfte wir in Europa hätten, wenn jeder allein für sich ginge und jeder gegen die anderen. Das Ringen um die richtige Lösung ist immer wichtig, aber zum Schluss zeigt sich doch der gemeinsame Wille, dieses Europa zu stärken.

STANDARD: Als Nächstes soll auch ein gemeinsames grünes EU-Impfzertifikat kommen. Was ist davon zu erwarten, was haben die Bürger davon?

Von der Leyen: Europa arbeitet daran, sicheres Reisen zu ermöglichen. Ganz wichtig ist, dass jetzt alle ihre Hausaufgaben machen. Es wird mindestens drei Monate dauern, bis wir auf europäischer Ebene und in den Staaten so weit sind. Wir haben uns bereits darauf geeinigt, dass wir dafür nur ein Minimum an Daten verwenden: Liegt eine Impfung vor oder ein negativer PCR-Test oder hat jemand eine Covid-19-Krankheit überwunden? Die Mitgliedsstaaten müssen ihr Gesundheitssystem fitmachen, damit diese Daten erfasst und ausgetauscht werden können. Europa stellt nach dem Beschluss des Europäischen Rates den Rechtsrahmen und die digitale Verknüpfung her, das Gateway. Es ist wichtig, dass der Gesundheitsschutz gewahrt ist, gleichzeitig die Bewegungsfreiheit der Menschen möglich wird.

STANDARD: Wird die Kommission die Infrastruktur in drei Monaten stehen haben, sodass dann, wenn die Mitgliedsstaaten ihre Hausaufgaben machen, das Reisen in drei Monaten, im Juni, beginnen kann?

Von der Leyen: Dass in drei Monaten eine digitale Verbindung stehen kann, hat die Kommission schon bei den Tracing-Apps bewiesen. Entscheidend ist, dass die Mitgliedsstaaten in der Zeit auch ihre Hausaufgaben machen. Bei den Tracing-Apps sind auch deswegen bislang erst 16 Staaten verknüpft. Es gibt sogar zwei Staaten, die ganz andere Systeme fahren und deshalb keine Daten austauschen können. Es geht darum, die Bewegungsfreiheit über Grenzen hinweg zu ermöglichen und gleichzeitig das Gesundheitsrisiko gering zu halten. Die Informationen auf dem Zertifikat zeigen nur, dass jemand nicht infektiös ist. Welche Rechte und Freiheiten mit diesem EU-weit anerkannten Attest verbunden sind, ist eine sich anschließende politische Frage. Die liegt in der nationalen Verantwortung und wird sicher auch von der epidemiologischen Lage im Sommer abhängen.

"Die Informationen auf dem Zertifikat zeigen nur, dass jemand nicht infektiös ist."

STANDARD: Durch die Virusmutationen hat die Pandemie einen Boost bekommen, gleichzeitig ist die Wirtschaft in einer immer schwierigeren Lage. Nun sollte der Wiederaufbaufonds dafür sorgen, dass nicht zu viele Jobs verloren gehen, neue geschaffen werden. Das kommt nicht in die Gänge. Muss nicht die Kommissionspräsidentin einen Ordnungsruf absetzen, damit die Mitgliedsstaaten endlich grünes Licht geben, damit die vorgesehenen 750 Milliarden Euro ausbezahlt werden können?

Von der Leyen: Zwei Dinge sind wichtig. Natürlich müssen die Staaten das im Europäischen Rat Beschlossene so rasch wie möglich ratifizieren. Wir achten sehr drauf, dass wir im Zeitplan bleiben. Ich habe fast täglich Telefonate mit Staats- und Regierungschefs dazu. Das zweite, mindestens genauso Wichtige ist, dass die Mitgliedsstaaten ihre nationalen Wiederaufbaupläne erstellen. Die müssen gut sein. Green Deal, Digitalisierung, Resilienz, aber auch eine gute Balance aus Reformen und Investitionen müssen enthalten sein. Wenn wir so viel investieren, müssen auch die notwendigen Reformen stattfinden. Diese Chance zur Modernisierung Europas kommt nicht wieder.

STANDARD: Kritisieren Sie damit, dass die deutsche Regierung sogar schon den Kohleausstieg aus dem Wideraufbaufonds bezahlen will?

Von der Leyen: Noch liegen gar keine Pläne vor. Wir arbeiten mit den Mitgliedsstaaten daran, dass innovative Vorschläge gemacht werden. Es müssen auch grenzüberschreitende Projekte dabei sein. Zu Details nehme ich jetzt nicht Stellung, wir sind noch in der Werkstattphase. Wichtig ist, die Investitionen sind an Bedingungen, Meilensteine und Ziele geknüpft. Wir müssen so investieren, dass die nächste Generation einen Nutzen davon hat. Deshalb ist es entscheidend, dass wir in ganz Europa unsere Ziele bei der Digitalisierung und beim Klimaschutz erreichen.

STANDARD: Wann geht es denn endlich los? Man hat das Gefühl, es gibt jede Menge Programme, aber wann kommt es denn an, wann spürt der Bürger davon was?

Von der Leyen: Wir haben in der Pandemie doch bereits gewaltige Fortschritte bei der Digitalisierung erlebt. Wir erwarten, dass in erster Linie weiter in Infrastruktur investiert wird, 5G-Netze, 6G. Da sieht es sehr unterschiedlich aus in den Mitgliedsstaaten. Wir haben einen riesigen Schatz insbesondere an Industriedaten in Europa, der muss sicher gespeichert und für Innovationen nutzbar sein. Deshalb arbeiten wir an einer europäischen Cloud auf Grundlage von Gaia X. Wichtig ist auch die Förderung künstlicher Intelligenz. All das sind übergreifende Fragen, die in den nationalen Wiederaufbauplänen mitbeantwortet werden müssen.

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"Es ist eine sehr, sehr schwierige Zeit für unsere Wirtschaft. Wir stemmen uns mit aller Kraft gegen diesen schweren Einbruch." (Bild: EZB-Zentrale in Frankfurt)
Foto: REUTERS/Kai Pfaffenbach

STANDARD: Wie groß ist Ihre Sorge, dass wir nach dieser langen Gesundheitskrise jetzt auch noch in eine längere und tiefere Wirtschaftskrise hineingeraten?

Von der Leyen: Es ist eine sehr, sehr schwierige Zeit für unsere Wirtschaft. Wir stemmen uns mit aller Kraft gegen diesen schweren Einbruch. Bisher mit gutem Erfolg, bei allen Problemen, die eine solche Krise mit sich bringt. Wir haben alle europäischen Strukturfonds vollkommen flexibilisiert, richtig Geld in die Wirtschaft gepumpt. Die Beihilfen wurden flexibilisiert. Wir haben ein europaweites Kurzarbeitsprogramm aufgesetzt, damit Beschäftigte in Unternehmen bleiben können. Das sind gesunde Unternehmen, die müssen durchkommen. Und die Europäische Zentralbank hat mit aller Kraft Geld in die Wirtschaft gepumpt. Jetzt, mit fortschreitender Impfung, müssen wir in die nächste Phase gehen. Wir wollen ja nicht nur das Überstehen der Krise finanzieren, sondern auch kräftige Innovations- und Modernisierungsimpulse setzen, die Europas Position im weltweiten Wettbewerb langfristig stärken.

STANDARD: Vom Zeitablauf heißt das was? Ihr Ziel ist, dass 70 Prozent der erwachsenen Europäer bis Ende Sommer geimpft sind. Kommt dann der Aufschwung im Herbst?

Von der Leyen: Das Programm Next Generation EU wird in der zweiten Jahreshälfte starten und sofort mit den ersten Investitionen beginnen, das ist richtig. Aber jetzt muss erst einmal die Qualität der Pläne gesichert sein.

STANDARD: Abschließend: Wenn Sie in wenigen einfachen Sätzen den Bürgern in Europa eine Botschaft übermitteln wollen, was wäre das?

Von der Leyen: Diese Pandemie ist eine gewaltige Herausforderung für die gesamte Welt. Ich wünsche mir, dass wir, wenn wir eines Tages zurückschauen, sagen können, wir haben aufeinander geachtet und wir haben zusammengehalten. (Thomas Mayer 7.3.2021)