Gertrude Ederles Vater versprach seiner Tochter einen roten Sportwagen, sollte es ihr gelingen, durch den Ärmelkanal zu schwimmen.

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Beim zweiten Versuch hatte Ederle gut lachen: Sie schaffte es nach England – und bekam einen roten Roadster.

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Anke Tinnefeld kurz vor ihrer Ärmelkanal-Durchquerung. Auf der Schwimmhaube steht ihr Motto: Happy Wild Swimming.

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Im kalten Wasser des Ärmelkanals wirkt heiße Schokolade am besten. Knapp 35 Kilometer misst die schmalste Stelle zwischen Frankreich und England, für Schwimmerinnen und Schwimmer der Mount Everest ihres Sports. Selbst in Sommermonaten misst die Wassertemperatur keine 20 Grad. Als Gertrude Ederle vor knapp 95 Jahren vom Cap Gris-Nez nach Dover schwamm, ernährte sie sich von Hendlhaxen und Ananasstücken, trank Hühnerbrühe, Rindssuppe – und heiße Schokolade.

"Die Ananas kann ich nachvollziehen", sagt Anke Tinnefeld. Die Hamburgerin schwamm 2018 durch den Ärmelkanal und aß dabei Dosenpfirsiche, "die muss man kaum kauen". Den Rest von Ederles Menüplan will sie nicht empfehlen. Heute hilft man sich mit leicht verträglicher Flüssignahrung. Abgesehen davon haben sich die Voraussetzungen für Ärmelkanal-Durchquerungen kaum verändert. Neoprenanzüge sind verboten, ebenso das Anhalten bei einem Begleitboot oder Hilfe von außen. Dies wurde Ederle einst zum Verhängnis, machte sie später aber zur bekanntesten Schwimmerin der Welt.

Das Muss

Die Strömung macht aus 35 Kilometern Luftlinie häufig 55 zurückzulegende Kilometer im Wasser. Warum tut man sich das an? "Es gibt schönere, spektakulärere und schwierigere Strecken", sagt Mäx Beer aus Wien. Er durchquerte den Ärmelkanal im Jahr 2016. "Es ist aber die Strecke, die man gemacht haben muss. Jeder weiß sofort, wovon man spricht."

Der Kampf gegen den Motivationsverlust ist hart, sagt Tinnefeld. Sie selbst schwamm in Ederles Gegenrichtung, von England nach Frankreich. "Auch nach etlichen Stunden schaut die Küste von Dover beim Blick zurück noch gleich aus", sagt sie. Es sei zermürbend, Zeit zur Erholung gebe es kaum. Wenn man sich auf den Rücken legt, treibt man schnell ab. Und es gibt noch ein Problem: "Pausen funktionieren nicht. Der Körper kühlt sofort aus."

Das Missverständnis

Eine Verschnaufpause beendete im Sommer 1925 Ederles ersten Versuch, den Kanal zu durchqueren. Knapp neun Stunden schwamm sie im Bruststil, plötzlich bewegte sie sich nicht mehr vorwärts. Es war stürmisch, die Wellen schlugen hoch und höher. Eine Masernerkrankung in ihrer Kindheit machte Ederle schwerhörig, die Kommunikation war diffizil. Ihr Trainer Jabez Wolffe schrie besorgt um sich: "Sie ertrinkt!" Er entschied, Ederle aus dem Wasser zu holen. Schon mit der ersten Berührung war die Disqualifikation besiegelt. Ederle war außer sich, sie habe sich nur ausgeruht, sagte sie anschließend. Wolffe selbst war zuvor satte 22 Mal im Kanal gescheitert.

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Um sich vor Aufschürfungen und vor Quallen im Ärmelkanal zu schützen, ließ sich Ederle mit Olivenöl, Wollfett und Schweineschmalz einschmieren.
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Gertrude Ederle wurde am 23. Oktober 1905 in New York geboren. Ihr Vater Henry war aus Schwaben in die USA ausgewandert und betrieb in Manhattan eine Fleischerei. Die Legende besagt, er band seiner Tochter ein Seil um den Körper und warf sie an der Küste von New Jersey ins tiefe Nass. "Wenn einem das Wasser bis zum Halse steht, sollte man schwimmen, nicht trinken lernen", sagte der evangelikale Pastor Billy Graham einmal. Das junge Mädchen trank nicht, es schwamm.

Ederle trat dem New Yorker Schwimmverband für Frauen bei. Für drei Dollar Mitgliedsgebühr feilte sie in einem Becken in Manhattan an ihrer Technik. Sie entwickelte einen Kraulstil, bei dem sie seltener Luft holte als ihre Kontrahentinnen. 1922 stellte sie in einem Wettkampf über 500 Meter sieben Weltrekorde auf. Zwei Jahre später gewann sie Olympia-Gold in der Staffel, im Sommer darauf folgte das deprimierende Missverständnis im Ärmelkanal.

Ederle holte Thomas Burgess in ihren Betreuerstab, der bereits 1911 den Ärmelkanal durchquert hatte. New York Daily News und Chicago Tribune bezahlten dessen Gehalt und alle weiteren Spesen. Im Gegenzug schrieb Burgess Kolumnen, die Zeitungen erhielten zudem ein Recht auf die exklusive Vorabberichterstattung.

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Daft Punk wäre stolz auf Ederles Brille gewesen.
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Am 6. August 1926 nahm Ederle den Ärmelkanal ein zweites Mal in Angriff, diesmal kraulend. Sie trug eine Motorradbrille, die sie mittels Paraffin wasserdicht gemacht hatte. Auf einem der Begleitboote spielte zur Ablenkung eine kleine Blasmusikkapelle. Die wichtigste Neuerung: Ederle betonte, nicht mehr berührt werden zu wollen – komme, was da wolle.

Es wurde erneut brenzlig. Das Wetter verschlechterte sich, Trainer Burgess machte sich Sorgen. Er riet Ederle mehrmals zur Aufgabe. Ihre knappe Antwort: "Wozu?" Nach 14 Stunden und 31 Minuten, so berichteten es die Zeitungen, erreichte Ederle England. Fünf Personen waren vor ihr durch den Ärmelkanal geschwommen, sie war die erste Frau. Den damaligen Rekord unterbot sie um fast zwei Stunden.

"Die Leistung ist sensationell", sagt Beer. "Es gab keine Youtube-Videos, die im Detail zeigen, was dich erwartet." Beer trainierte rund zweieinhalb Jahre für die Strecke, er erstellte Trainingspläne und trug im Wasser keine Motorradbrille.

Auf dem Ärmelkanal gibt es nicht nur Extremschwimmer wie Mäx Beer, sondern auch rund 500 Schiffe pro Tag.
Foto: Mäx Beer

Die "argen Sachen"

"In diesem Sport regieren die Frauen. Sie machen die wirklich argen Sachen", sagt Beer. Er ist einer von drei Österreichern, die im vergangenen Jahrzehnt den Ärmelkanal bewältigten. Die erste österreichische Durchquerung gelang bereits am 18. August 1934, es war eine Frau. Emma Faber, geborene Johanny, hatte bei ihrem dritten Versuch Erfolg, sie verpasste Ederles Rekordzeit nur um Minuten.

In einer Zeit, in der Frauen im Sport belächelt und entmutigt wurden, verschob Ederle die Grenzen des Vorstellbaren. Es war ein Meilenstein für die Gleichberechtigung, da sie bewies, dass Frauen Leistungen von Männern übertreffen können. Vor Ederle war es unüblich, dass Frauen das Schwimmen erlernen. Nach ihrer Durchquerung erwarben zehntausende Frauen in den USA in Kursen ihre Schwimmabzeichen. Ederle wurde zum Vorbild, ihre Sportart die beliebteste bei Frauen.

Die Queen

Bei ihrer Rückkehr nach New York wurde sie bei einer Parade von zwei Millionen Menschen gefeiert. US-Präsident Calvin Coolidge verlieh ihr den Titel "America’s Best Girl" und ließ es sich nicht nehmen, ihre "schlanke Figur" hervorzuheben. Die USA nannte Ederle die "Queen of the Waves", die Königin der Wellen. Heute trägt in Manhattan ein Sportzentrum Ederles Namen, Disney plant eine Verfilmung ihrer Kanaldurchquerung. Ederle verstarb im Alter von 98 Jahren in einem Pflegeheim in New Jersey.

Medial wurde sie oft durch den Kakao gezogen. Der Spitzensport schade ja der Gebärfähigkeit, lautete der Tenor. Ederle ließ ihre Kritiker verstummen: "Die Leute sagten, Frauen könnten nicht durch den Kanal schwimmen. Ich habe bewiesen, dass sie es können." (Lukas Zahrer, 8.3.2021)