Der Geschäftsinhaber Tiberio Bentivoglio in Reggio Calabria: Seine Weigerung, Schutzgeld an die 'Ndrangheta zu zahlen, ist ihn teuer zu stehen gekommen.

Foto: Dominik Straub

Die Sanitaria Sant'Elia von Tiberio Bentivoglio befindet sich an einer beneidenswerten Lage: Das helle und aufgeräumte Geschäft für Kleinkindbedarf liegt am Lungomare von Reggio Calabria, der kilometerlangen Strandpromenade der Stadt. Zwischen mächtigen Ficus-Bäumen und hohen Palmen hindurch blickt man auf die Meerenge von Messina und den zurzeit heftig rauchenden Ätna auf dem gegenüberliegenden Sizilien. Doch die Idylle trügt: Vor dem Lokal patrouillieren zwei schwerbewaffnete Soldaten, die das Geschäft Tag und Nacht bewachen. Und wenn Bentivoglio abends seinen Laden verlässt, wird er von Leibwächtern nach Hause begleitet.

Die Schutzmaßnahmen sind nötig, denn der 67-Jährige hat etwas getan, was in seiner Heimatstadt nur die wenigsten wagen: Er weigert sich, der 'Ndrangheta Schutzgeld zu zahlen – und das schon seit 1992, als die Mafiosi erstmals seinen Laden betraten. "Ich habe sie weggejagt und Anzeige erstattet", sagt Bentivoglio. Für seinen Mut hat er einen hohen Preis bezahlt: Sechsmal sind auf sein Geschäft Brand- oder Sprengstoffanschläge verübt worden. Insgesamt belief sich der Schaden auf mehrere hunderttausend Euro.

Im Jahr 2011 wurde er selber ins Visier genommen: Als er eines Morgens sein Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen, wurde er mit sechs Kugeln niedergeschossen. Er überlebte wie durch ein Wunder, aber seit dem Mordversuch ist Bentivoglio gehbehindert.

Kirchenglocken für die Mafiosi

Bentivoglios Kampf gegen die Mafia ist nicht nur gefährlich, sondern er war von Beginn an auch einsam. In dem Quartier, wo er in den Siebzigerjahren seinen ersten Laden eröffnet hatte, blieben die Kunden aus, nachdem er die Schutzgeld-Erpresser angezeigt hatte. "Ich dachte, ich hätte bloß meine Bürgerpflicht getan – und wurde alleine gelassen", sagt Bentivoglio.

Mit seiner Anzeige gegen die lokalen Clans hatte er gegen den Pakt des Schweigens verstoßen. Selbst der Priester seiner Kirchengemeinde hatte sich auf die Seite der Mafiosi gestellt: Als die Erpresser, die inzwischen ins Gefängnis gewandert waren, ihre Strafe verbüßt hatten und wieder freigelassen wurden, ließ der Priester zur Feier des Tages die Kirchenglocken läuten.

Verjährte Vorwürfe

Im Stich gelassen fühlt sich der Ladenbesitzer auch von Teilen des Staats. "Die Mühlen unserer Justiz mahlen zu langsam: Zwei der Prozesse gegen meine Peiniger sind wegen Verjährung eingestellt worden, obwohl die Schuld der Angeklagten offensichtlich war. Das ist sehr bitter", betont Bentivoglio. Und auch mit den Entschädigungen, auf die Mafia-Opfer in Italien einen gesetzlichen Anspruch haben, lässt sich die staatliche Bürokratie Zeit. "Ich musste jeweils drei bis vier Jahre warten, bis die Entschädigungen ausbezahlt wurden – und sie deckten jeweils nur einen Bruchteil des Schadens ab." Die Folge: Bentivoglio musste sich verschulden, um den Laden nach den Anschlägen wiedereröffnen zu können.

Die Pandemie und der lange Lockdown haben der wirtschaftlich ohnehin angeschlagen Sanitaria Sant'Elia weiter zugesetzt – und ihr Besitzer fühlte sich erneut sich selbst überlassen. "Der mit einer Staatsgarantie abgesicherte Covid-Kredit von 25.000 Euro, der allen Gewerbetreibenden zustand, wurde mir wegen der bereits bestehenden Schulden verweigert", berichtet Bentivoglio.

Falls die Pandemie nicht bald zu Ende sei, drohe das Aus: "Wir wissen nicht, ob wir in diesem Jahr in Konkurs gehen werden. Im Moment reichen die wenigen Kunden nicht einmal, um die Steuern und die Stromrechnungen zu bezahlen."

Die Würde bewahrt

Dennoch: Tiberio Bentivoglio würde, wenn er auf seine Leidensgeschichte zurückblickt, trotz allem noch einmal das Gleiche tun: "Indem ich das Schutzgeld verweigerte, habe ich meine Würde bewahrt. Das ist das Wichtigste." In den Augen der Anti-Mafia-Bewegungen Italiens ist er ein Held, ein Vorbild. Bentivoglio wird im ganzen Land an Schulen und Konferenzen eingeladen, wo er über seine Erfahrungen spricht und Vorschläge zur effizienteren Bekämpfung des organisierten Verbrechens macht. Und er hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass die 'Ndrangheta irgendwann – "in 15 oder 100 Jahren" – besiegt sein wird.

Über die von ihm ersehnte Zukunft ohne Mafia hat er ein Buch mit dem Titel "C'era una volta la'Ndrangheta" ("Es war einmal die 'Ndrangheta") geschrieben, das vor kurzem erschienen ist. Die Handlung spielt im Jahr 2039, und Bentivoglio schlüpft in die Rolle eines Großvaters, der seinem 11-jährigen Enkel von der Zeit erzählt, in der es die 'Ndrangheta noch gegeben hatte. Er schildert, wer die Mafiosi waren, was sie getan haben, wie sie sich kleideten – und wie sie besiegt wurden von einem Staat, der endlich alle seine Energie in den Kampf gegen die Clans gesteckt und sich an die Seite derer gestellt hat, die sich wehrten. "In den Schulen sage ich den 'ragazzi' (Jungs) immer: Es lohnt sich, Anzeige zu erstatten, denn nur so werden wir früher oder später siegen." (Dominik Straub, 8.3.2021)