Autor Takis Würger (35), Absolvent der Henri-Nannen-Schule für Journalismus, verfolgt als Erzähler ein hehres Anliegen – und kann dabei doch nicht von der plumpen Effekthascherei lassen.

Foto: Sven Döring/Agentur Focus

In seinem letzten, 2019 erschienenen Roman "Stella" erzählte Takis Würger die verbürgte Geschichte der jüdischen "Greiferin" Stella Goldschlag: Eine mit dem Leben ihrer Eltern erpresste Schönheit kollaboriert mit der Gestapo, indem sie die Verstecke untergetauchter Juden preisgibt. Nicht die Grausamkeit des Dilemmas bildete die Hauptattraktion des Erzählwerks. Würger zeichnete die Kulisse, das verdunkelte Berlin der 1940er-Jahre, in den augenschmerzenden Farben eines Konsalik-Romans.

Gehobene SS-Chargen ergötzten sich an hart boppendem Jazz und verwegen riechendem französischen Käse. Takis Würger, ein "Spiegel"-Reporter und Spitzenexponent der gehobenen Journalistenschulung, hatte sauersten Nazi-Kitsch fabriziert: Kasinoprosa. Prompt regte sich Widerspruch, nicht zuletzt durch die Rechtsnachfolger der realen Stella Goldschlag.

In seinem neuen Buch "Noah" sichert Würger sich gleich von vornherein mehrfach ab. Bei der Titelfigur handelt es sich um keinen Geringeren als den Auschwitz-Überlebenden Noah Klieger (1925–2018). Als Zeitzeuge gab Klieger, der Auswanderer nach Palästina, sein Wissen an nachgeborene Generationen weiter: eine unverdrossen forsche Stimme der Vernunft.

Unterm Kumquatbaum

Klieger vermochte sein Unverständnis schwerlich zu verhehlen. Wie konnte es zugegangen sein, dass ein Kulturvolk wie das deutsche Hitler, "dieser Karikatur", hörig wurde? Würger hat Klieger in Tel Aviv während mehrerer Wochen regelmäßig getroffen, "auf Plastikstühlen unter einem Kumquatbaum". Kliegers Lebensbericht besitzt die Weihen der Authentizität: Er, ein schmächtiger, jüdischer Jugendlicher aus Brüssel, hilft mit, Kinder über die Grenze nach Frankreich zu schmuggeln. Er wird 1942 aufgegriffen und 1943 nach Auschwitz III Monowitz deportiert.

Klieger überlebt das Vernichtungslager. Er übersteht, indem er sich als Boxer ausgibt, die Selektionen: alle Übergriffe, die Schändungen der Menschenwürde. Würger erfüllt die selbstgewählte Chronistenpflicht sozusagen souverän: Er bewegt sich wie auf Zehenspitzen. Seine Sätze sind von äußerster Kürze und leben vom Primat der Anschaulichkeit. Als Mitglied der Boxstaffel von Auschwitz landet Klieger ausgerechnet dadurch einen Treffer, dass er als Laie niemals gewinnt: "Ein Tscheche brach ihm die Nase. Noah bekam seine Suppe."

Das Schicksal führte Klieger weiter: zuerst in die Harz-Stollen, in denen die "Wunderwaffen" der Nazis gefertigt wurden. Aus Ravensbrück befreite ihn schließlich die Rote Armee. Die letzten Tage des Grauens sind zu äußerster Lapidarität verdichtet: "Nachts schlief Noah auf der Erde. Ab und zu schoss ein SS-Mann einem Menschen neben ihm in den Kopf. Noah riss Gras vom Wegesrand und aß es."

Reger Kitschverdacht

Prompt regt sich Kitschverdacht. Es gibt sehr wohl Ereignisse, die nichts als ihre verdichtete Wiedergabe erheischen. An anderer Stelle erzeugt ausgerechnet die Kunst der Aussparung ein Gefühl von Übersättigung. Das Stakkato dient zur Rechtfertigung einer Nähe, die der Text nicht einlöst. Der vermeintliche Reporter sieht sich als Wirkungsästhet überführt.

Nicht viel anders verhält es sich mit den Figurenzeichnungen, die Würger zur Erzeugung "belebender" Kontrastwirkungen heraushebt. Die Begegnung Kliegers mit SS-Lagerarzt Josef Mengele wird von Würger angebahnt, indem er dem heranwachsenden Mengele Niedlichkeiten nachsagt: "Beppo wuchs zu einem Mann heran, der sich für Kunst und Blondinen interessierte …" Handelte es sich bei "Beppos" erotischen Idolen tatsächlich um Blondinen? Und sind Fakten auch dann noch berichtenswert, wenn sie mit Klischees identisch sind?

Noah Klieger war "einer, der überlebte": Der für das Existenzrecht Israels kämpfte und Auskunft ereilte. Von ihm existieren Schriften, die eine Wiederauflage verdienen würden. Würgers Beitrag zur Oral History erweist dagegen zweierlei: Das Zeugnis der Überlebenden der Shoa darf niemals verschwinden. Und nicht jeder, der beim Überliefern hilft, ist dieser Aufgabe literarisch gewachsen. (Ronald Pohl, 9.3.2021)