"Auf ein Bier."

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"Ich bin frisch getestet!" "Ich will schmusen!" "Ein Königreich für eine Hotelbar!" "Ich will wildfremde Leute abschlecken!" So stand es vor kurzem im Whatsapp-Gruppenchat des Vertrauens geschrieben, von leicht durchfrorenen, schlecht frisierten, blassen Menschen, müde und fast-forward teilergraut nach mehreren Jahren, äh, zwölf Monaten Mehrfachbelastung, Vernunft und ununterbrochener Achtsamkeit. Vage Erinnerungen hatten wir noch, an wilde Abende, früher. Und es lag nicht am Alter.

Ja, wir haben bei Eiseskälte gemeinsam Schaumwein getrunken, nach der Arbeit und vor 20 Uhr, im verordneten Abstand, im öffentlichen Raum. Beim Abschied die Ellenbogen vorsichtig berührt. Vorher darüber gesprochen, was und wer uns fehlt, darüber, woran wir uns gewöhnt haben und woran wir uns keinesfalls gewöhnen wollen. Wir wissen, es muss sein. Wir wissen auch: Wir können das. Aber wollen müssen wir es nicht auch noch.

Wo sind sie, all die geliebten, anstrengenden, gewohnten, überraschenden sozialen Aspekte eines Abends?
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Was wir wirklich wollen? Uns gemeinsam treffen können. Reden. Oder nicht. An einer verdammten Theke. In einer Bar. In einem Beisl. Im echten Leben. "Auf ein Bier." Auch wenn zu bezweifeln ist, dass dieses sagenumwobene einzelne Getränk je konsumiert wurde, dieser Yeti in einem Glas. Jedenfalls: sich für einen Abend umgeben mit Menschen aus deutlich mehr als einem anderen Haushalt. Am besten mit uns noch unbekannten Menschen aus uns noch unbekannteren Haushalten.

Was ist es am Beisl, das wir so vermissen? Ist es das Getränk? Das kalte Bier, der etwas zu warme Spritzer mit oder ohne Zitrone, der Schnaps, der nächstentags doch noch auf der Rechnung steht, der perfekt gemischte Cocktail, exakt wie gewünscht, oder einfach nur ein Espresso mit Mineral? Aber wo. Es ist: der Zufall. Denn ja, inzwischen kennen wir von diversen von langer Hand geplanten Onlinetreffen in unterschiedlichen Formaten schon gegenseitig, unabsichtlich geteilt, den Terminkalender und die Namen der Morgenmäntel (lila ist er und heißt "Fluschiflauschi", der von P.).

Aber wohin kann man nachher abbiegen, lange nachdem man heimgehen wollte? Mit wem ein ganz privates Nebengespräch führen? Wem zufällig über den Weg laufen? Oder absichtlich, wie in grauer Vorzeit, einfach weil man wusste, wer an welchen Tagen um welche Uhrzeit in etwa wo zu finden war, und man ganz ohne Vereinbarung, unironisch, "zufällig in der Gegend" sein konnte? Wo sind sie, all die geliebten, anstrengenden, gewohnten, überraschenden sozialen Akte eines Abends? Verschwesterungen an der Bar? Ein absurdes Gespräch mit völlig fremden Menschen, von dem man lange zehrte?

Eine Tschumsen freudvoll betreten zu können, das ist eine Frage der Übung und des Gewohnheitsrechts, erarbeitet in Wochen, Monaten, Jahren, Jahrzehnten. Stammbeisln können deutlich länger als Ehen und Mietverträge halten, länger als alles im Menschenleben zwischen Kindergarten und Sterbebegleitung. Nicht immer sind sie gesund. Weder für die Menschen vor noch für die hinter der Budl. Aber was sie alles sein können: der Funkenflug. Wilde Diskussionen, nach denen man manchmal klüger ist – oder zumindest besser argumentieren kann. Beziehungsenden, erste Schmusereien oder gern vergessene.

Passiert nix

"Nach Mitternacht passiert nix", hat meine Mutter mir einst erklärt, als sie wollte, dass ich früh nach Hause komme. Es war natürlich – aus besorgtem Herzen, vermutlich – die größte Lüge überhaupt. Alles passiert nach Mitternacht. Verlorene Schlüssel und Herzen und Telefonnummern, gefundene Freunde und Freundinnen fürs Leben, Erweckungserlebnisse, Momente völliger Wahrheit und Klarheit, zumindest vermeintlich. Es geht nicht so sehr um den Rausch als um die rein gedankliche Möglichkeit zur Unvernunft und dem Aus-der-Welt-Sein, derweil man mittendrin ist. Nie ist man so unfassbar klug und unsterblich wie hier, auch wenn beides Behauptung ist. Heuer vermisst man es noch mehr, dass die Gesundheit einmal eine Frage der eigenen Entscheidung war und es Orte gab, an denen man die Welt anders kennenlernte.

Der 80-jährige Wienerlied-Wirt im 18. Bezirk, der sich von mir altklug Verklärung vorwerfen lassen musste, der mir geduldig erzählt hat vom Prater und der ewigen Jugend – und der Arbeiterbewegung. Der allererste Wirt, der im Halbstock immer ein Glas Wasser stehen hatte, weil er dort ein Gespenst vermutete (angeblich half das zur Beruhigung des Geistes, die Gäste bekamen Tequila). Die Amerikanerin, die um vier Uhr morgens davon erzählte, warum sie gern in Wien chinesische Bedienungsanleitungen übersetzt, weil sie sich hier vor einem allfälligen dritten Weltkrieg sicher fühlte.

Die Wirtin, die immer Brecht sang, wenn es passte, und auch, wenn es nicht passte. Die strenge Sylvia, die eigentlich in Pension gehen wollte, weil sie arbeitet, seitdem sie 13 Jahre alt war, aber dann doch lieber im Lokal stand, als zu Hause mit ihrem Mann zu sein. Die aparte Siebzigjährige, die mir erzählte, wie sie sich einen russischen Mantel samt Pelzmütze zulegte, wegen Omar Sharif, und dann schoss ihr im Kino die Milch ein. Sie war seit ein paar Wochen Mutter und der Mantel hart wie ein Brett. Der unfassbare Mist, den man sich angehört hat und die überraschenden Klugheiten. Die anderen Lebenswelten von Menschen, mit denen man nicht Bett oder Büro teilte.

Zurückgeworfen auf die eigenen Gedanken, läuft der Mensch unrund – oder im Kreis. Die Sorgen im Kopf bekommen viel zu viel Raum, und kein blöder Witz stört sie dabei. Weg ist sie, die Sicherheit, dass es jetzt für ein paar Stunden auf nix ankommt. Genau diesmal hätten wir sie gebraucht, genau diesmal ging es nicht. Wie soll man allein auf Ideen kommen? Dabei brauchen wir sie so dringend wie einen Bissen Brot, auch politisch.

"Schlafen kann ich, wenn ich tot bin", sangen die Lassie Singers einst so wahrhaftig in ihrer Hymne Leben in der Bar von der Möglichkeit, dass dieser Tag erst dann aufhört, wenn wir wollen, nicht, wenn die Vernunft es vorgibt. Ans Sterben haben wir in den letzten zwölf Monaten viel zu oft denken müssen. Daran, dass der Tag wirklich zu Ende sein kann, es auch war für viele.

Die Bar an sich ist eine abstrakte Idee und ein höchst konkreter Ort gleichzeitig – wenn es ihn dann noch gibt, wenn die Chose vorbei ist. Manchmal war es mir leid, früher, in dieser anderen Zeit, um diese verschenkte Zeit. Ein Jahr lang war nichts davon reproduzierbar. Man hätte es nicht kaufen können, nicht künstlich herstellen. Keine Stunde davon war verschwendet. Es war das Leben. (Julia Pühringer, 10.3.2021)