Amerikanerin und Lagunenbewohnerin: Caitlin (Jordan Kristine Seamón) aus "We Are Who We Are".

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Genoss eine wilde Kinoerziehung: Luca Guadagnino.

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Der italienische Regisseur Luca Guadagnino ist Spezialist für Identitätskrisen, egal ob sie durch eine Sommerliebe (Call Me By You Name) ausgelöst werden oder durch Hexentreiben in einer Ballettschule (Suspiria). In seiner ersten HBO-Miniserie We Are Who We Are entwirft er nun ein Land innerhalb eines anderen: Ein US-Militärstützpunkt im italienischen Chioggia dient als Ausgangspunkt, um eine Gruppe an Teenagern und Erwachsenen zu begleiten, die entweder ihren Platz in der Gesellschaft noch suchen oder diesen in Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft gefunden haben. Ein beweglicher Mikrokosmos, den Guadagnino mit großer Sensibilität einfängt. Das Gespräch fand auf dem Filmfestival von Venedig statt – nicht weit von den Originalschauplätzen der Serie entfernt.

STANDARD: Wie ist die Idee zu diesem Schauplatz entstanden, der die USA en miniature abbildet?

Guadagnino: Ich sollte etwas über Gender-Fluidity in den USA machen. Da sagte mir mein Instinkt, warum machen wir keine Serie über Familien in einem US-Militärcamp? Die Militärbasis könnte als Paradigma für die Universalität der Geschichte dienen. Es gibt einen amerikanischen "state of mind": Amerikaner zu sein, das ist überall dasselbe. Auch wenn es mittlerweile eine starke Kluft in der Gesellschaft gibt, die vereinnahmende Kraft ist immer noch groß: Man ist Teil einer Idee von Gemeinschaft.

HBO

STANDARD: Sie zeigen ungewöhnliche Familien: Sarah Wilson, die von Chloë Sevigny verkörperte Leiterin des Camps, lebt in einer lesbischen Beziehung gemeinsam mit ihrem Sohn Fraser, der selbst orientierungslos ist.

Guadagnino: Ja, es gibt aber auch eine Hillary Clinton in dieser Sarah Wilson. Clinton hat die Trump-Wähler als "die Bedauernswerten" bezeichnet. Mit gefiel die Idee, dass Sarah eine Frau des Militärs ist, was ihr Zugehörigkeitsgefühl anbelangt, obwohl sie so einzigartig ist. Sie steht stramm vor der US-Flagge.

STANDARD: Die Serie spielt 2016, Trump steht ante portas. Warum dieser Zeitpunkt?

Guadagnino: Weil es eine Geschichte des Übergangs ist, über Leute, die sich verändern. Die Wahl von 2016 brachte eine traumatische Veränderung für Amerika. Obama war trotz seiner letztlich konservativen Politik ein wunderbares Symbol für die Erneuerung des Landes. Nach diesen acht Jahren gab es eine neue Herausforderung: entweder die Restauration der symbolischen Ordnung in Person von Hillary Clinton, für die man sich nicht entschieden hat, weil sie eine Frau ist, sondern weil sie das Establishment verkörperte. Oder der Post-Berlusconismus: ein Plutokrat-Showbusiness-Clown. Natürlich ging das Rennen gut für den Clown aus.

STANDARD: Hat der amerikanische Traum der Neuerfindung ausgedient?

Guadagnino: Dieser Traum war nie unschuldig. Trotz aller Chancen, die Amerika sich selbst gegenüber ermöglicht hat, wie Martin Scorsese in meinem Dokumentarfilm Salvatore – The Shoemaker of Dreams sagt. Das Konzept Amerika, das Gebäude, das dafür errichtet wurde, kann nicht davon getrennt werden, welche Albträume die Konstruktion mit sich gebracht hat. Es war ein unglaublich langsamer Prozess, anzuerkennen, dass Amerika auf dem Fundament des Sklavenhandels gebaut wurde. Jetzt sind wir an einem Punkt, wo man sich damit endlich auseinanderzusetzen beginnt.

STANDARD: Die Serie spiegelt das wider: Eine der Figuren, die Sie ins Zentrum rücken, ist Caitlin, eine junge Afroamerikanerin. War Ihnen an einem pluralistischen Zugang gelegen?

Guadagnino: Mir geht es darum, dass man Menschen sichtbar macht. Eine 14-jährige afroamerikanische Jugendliche, die sich gesehen fühlt und kein Klischee verkörpert. Wenn man an die ganze Serie denkt, dann sieht man acht bis zwölf Figuren, die für einen ganzen Gesellschaftsausschnitt einstehen. Das heißt, es geht weniger um eine bestimmte Verhaltensweise als um Verhalten an sich. Ich wollte die Rolle eines Beobachters einnehmen, also die Figuren zeigen, ohne sie zu beurteilen.

STANDARD: "We Are Who We Are" ist Ihre erste Serie. Sie haben alle Folgen selbst inszeniert – das ist ja durchaus unüblich auf diesem Gebiet.

Guadagnino: Ich habe das Drehbuch so ins Herz geschlossen und wollte, dass alle Figuren nur mir gehören! Für mich hat es sich wie ein Spielfilm angefühlt, wir haben 94 Tage gedreht. Wenn ein Regisseur hundert Takes macht, dann will er nur angeben ... Oder ist so anal wie der großartige David Fincher.

STANDARD: Sie arbeiten stark mit Perspektivwechseln und Gefühlslagen. Weniger Plot-orientiert als viele Serien heutzutage. Ein Wort dazu?

Guadagnino: Ich entwerfe eine Figur nie danach, was sie vielleicht später tun wird. Wenn ich dieses strikte Denken in Akten in US-Filmen sehe, dann bin ich oft entgeistert, denn ich eile dem Film voraus. Ich kenne jeden Twist. Noch schlimmer ist es, einen Film eines Auteurs zu sehen, der ein obsessives Verhältnis zu sich selber hat. Bergman sagte einst, wenn er jemals einen Bergman-Film macht, bringt er sich um.

STANDARD: Sie haben mehrere Remakes gedreht, etwa von "Suspiria", nun planen Sie eines von "Scarface". Gehen Sie eigentlich immer schon von vorgefertigten Bildern aus?

Guadagnino: Ich habe eine wilde Kinoerziehung genossen und kann in meinem Kopf zu den unterschiedlichsten Orten streunen. Bernardo Bertolucci hat einmal gesagt, was mich sehr demütig werden ließ: "Luca und ich arbeiten im Kino durch die Linse des Kinos." Wir schauen das Kino an, bevor wir Kino machen. Das stimmt, auch wenn es nicht bedeutet, dass man von jeder Anbindung an die Realität befreit ist, aber man startet woanders. (Dominik Kamalzadeh, 9.3.2021)

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