Hätte es nicht in Deraa begonnen, dann wäre der Funke des damals so genannten Arabischen Frühlings eben an einer anderen Stelle auf Syrien übergesprungen: Es ist wohl mehr ein historischer Zufall, dass Anfang März 2011 die ersten größeren Proteste gerade aus dieser südsyrischen Stadt gemeldet wurden. Eine Gruppe von Halbwüchsigen hatte den während der tunesischen Revolution geborenen Slogan "Das Volk will den Sturz des Regimes" auf Hauswände geschmiert, die lokalen Behörden hatten die jungen Leute festgenommen und gefoltert. Das brachte die Menschen auf die Straße.

Mitte März wurde dann zum ersten Mal in der Hauptstadt Damaskus demonstriert, andere Städte folgten. Aber der Beginn in der Peripherie erwies sich später als richtungsweisend: Die Protestbewegung in Syrien entwickelte nie ein Zentrum.

Zurück nach Deraa, zehn Jahre danach: Seit 2018 ist nicht nur die Stadt, sondern der ganze Süden wieder unter Regimekontrolle, zum Teil zurückerobert, zum Teil durch von Russland vermittelte lokale Abmachungen mit früheren Rebellen. Womit man inmitten der Verfilzung der Interessen innerer und äußerer Akteure wäre: Russland bemühte sich auch deshalb um diese Arrangements, um im Süden Syriens die Präsenz der Iraner, der zweiten großen militärischen Unterstützer des Assad-Regimes, einzudämmen – und das wiederum, um mögliche israelische, aber auch jordanische und US-amerikanische militärische Reaktionen auf zu viele Iraner in der Grenzregion zu verhindern. Die USA stimmten dem zu.

Regimeoffensive in Aleppo 2016.
AFP

Die Menschen sind am Ende

Ruhig ist es in Deraa heute dennoch nicht. Neben lokalen Konflikten wird die Stimmung dem Regime gegenüber wieder zunehmend feindselig. Auch an anderen Orten – sogar an solchen, wo Regimeloyalisten überwiegen, in anderen Landesteilen – wird Kritik immer lauter geäußert. Die Menschen sind ganz einfach am Ende. Ein zerstörtes, verelendetes Land, in dem 80 Prozent der Bevölkerung in Armut leben, unter beißenden Sanktionen, kein Strom, kein Brot, dafür ein totaler Währungsverfall und die Corona-Krise, die es offiziell gar nicht gibt (was sich in Zukunft ändern könnte, nachdem am Montag die Covid-Infektion von Assad und seiner Frau bekanntgegeben wurde). In Latakia und Tartous an der Küste, eigentlich Hochburgen der Assad-Klientel, in Sweida im Süden, sogar im vom Regime niedergeprügelten Homs kommt es zu Protesten.

Riskante Wahl

Und Bashar al-Assad will sich in dieser Situation wiederwählen lassen. Die Verfassung von 2012 sieht Präsidentschaftswahlen zwischen Mitte April und Mitte Mai 2021 vor, die bisher letzten waren 2014. Nicht, dass Assad nicht sicher gewinnen würde, aber die Wahlen bergen auch ein Risiko: Wenn die Beteiligung kollabiert, wird es nichts mit der erwünschten Legitimierung seiner Präsidentschaft. Es gibt Boykottaufrufe.

Die internationale Gemeinschaft wird diese Wahlen genauso ignorieren wie die Parlamentswahlen im Juli 2020, die – keine Überraschung – die Baath-Partei gewonnen hat sowie eine neue, vom Krieg hervorgebrachte Politklasse: Personen, die einer der vielen Milizen nahestehen, sowie die neue Business-Elite der Kriegsgewinnler. Bis in den höchsten Regimezirkel reicht das Ringen um die Geschäfte und die Macht, die das Geld verschafft: In der Familie Assad etwa hat das zur Demontage Rami Makhloufs, des Cousins des Präsidenten mütterlicherseits, geführt. Auch andere Geschäftsleute sind für den Geschmack Assads zu reich und – oft im Ausland – zu umtriebig geworden und werden nun wegen Korruption verfolgt.

Die US-Luftschlacht gegen den "Islamischen Staat" in Kobanê 2014.
AFP

Nicht nur in Syrien mündeten die Ereignisse von 2011 in einen Krieg, aber anders als in Libyen und im Jemen ist der damalige Machthaber in Syrien noch am Ruder. Zweierlei hatte man unterschätzt: die Brutalität und die Resilienz des Regimes sowie den Willen seiner Verbündeten, Irans und Russlands, ihn zu halten. Moskau griff 2015 direkt militärisch ein, um Assad zu retten, damals stand es schlecht für ihn. Danach wendete sich das Blatt.

Die Protestbewegung militarisierte sich früh: einerseits angesichts der Repression und andererseits durch die Signale von außen, dass ein Sturz Assads erwünscht war. Da aber auch die Interessen der Unterstützer stark divergierten, ließen sie unterschiedlichen Gruppen ihre militärisch und finanzielle Hilfe angedeihen, eine Zersplitterung der Rebellenszene war die Folge.

Vergiftung durch Religion

Der Islam als Mobilisierungsmittel gegen den Alawiten Assad war ein besonderes Gift im Aufstand – und ein Geschenk an ihn selbst, der sich religiösen Minderheiten als Bollwerk gegen den Jihadismus verkaufte. Die Gräuel des "Islamischen Staats", der zu Jahresbeginn 2014 die volle Kontrolle über Raqqa und weite Gebiete übernahm, spielten letztlich auch ihm in die Hände.

Heute ist Syrien ein grob dreigeteiltes Land zwischen dem Regime, Kurden und der Türkei. In Damaskus und anderen großen Städten, im Zentrum, Süden und Westen übt Assad mithilfe seiner Unterstützer und ihrer Instrumente – wie etwa der vom Iran abhängigen Milizen, allen voran der libanesischen Hisbollah – nominell die Kontrolle aus. Im Nordosten haben sich die von den USA trainierten und ausgerüsteten Kurden der PYD/YPG gehalten.

Assad hatte der PYD bereits ab 2012 stillschweigend den Norden überlassen, auch das Gebiet an der gesamten türkischen Grenze bis in den Westen. Dort jedoch marschierte ab 2016 die Türkei in mehreren Wellen ein und etablierte die Verwaltung ihrer syrischen Stellvertreter, um die PKK-nahen Kurden zu verdrängen. Die Türkei kontrolliert auch Teile der Provinz Idlib, der letzten Rebellenhochburg, wie immer gesagt wird, leider auch mit einer starken extremistischen Präsenz.

Der russische Präsident Wladimir Putin im Jänner 2020 bei Bashar al-Assad in Damaskus.
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Alle Akteure aufzuzählen, die in Syrien mitmischen, würde den Rahmen sprengen: Israel mit Angriffen auf iranische Ziele und auf die Hisbollah, Saudi-Arabien mit der Unterstützung arabischer Stämme im Osten, die Vereinigten Arabischen Emirate als diplomatische arabische Vorhut in Damaskus. Und da sind noch die vielen Länder, die syrische Flüchtlinge aufgenommen haben, in der Region, aber auch in Europa.

Rückkehr braucht Wiederaufbau

Man weiß, dass die geflüchteten Syrer und Syrerinnen nur dann in ihr Land zurückkehren können, wenn es einen ernstzunehmenden Wiederaufbau gibt: Noch immer hat man keine Antwort darauf, ob und wie etwa die EU, die ja Interesse an der Rückführung Geflüchteter hat, dabei mit Assad zusammenarbeiten soll. Es fehlt jede Perspektive für einen abgesicherten Übergang in eine Zeit nach Assad. Hin und wieder ist russische Ungeduld mit Assad zu spüren, aber nur sachte.

Die internationale Gemeinschaft hatte bereits 2012 in Genf zum ersten Mal versucht, zu einer gemeinsamen Position zu kommen. Die Uno hat in den zehn Jahren drei Syrien-Sonderbeauftragte verschlissen, der jetzige, vierte, ist der Norweger Geir Pedersen. Im Jänner fanden unter seiner Ägide wieder Gespräche über eine neue syrische Verfassung in Genf statt, ohne Fortschritte. Die Uno-Sicherheitsratsresolution 2254 gibt einen politischen Prozess für Syrien vor. Dass sie im Dezember 2015 überhaupt zustande kam, wurde als Erfolg gesehen. Das ist mehr als fünf Jahre her. (Gudrun Harrer, 9.3.2021)