FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl hat keine Angst vor dem Virus. Ein Naturbursch wie er vertraut auch nicht auf naturferne Impfungen von Pfizer und Co, sondern auf sein "starkes Immunsystem". Bei der mittlerweile legendären, wenngleich etwas gruseligen Rede (Thomas Maurer: "Goebbels-Parodie") im Prater bei der Querdenker-Demo am 6. März, verortet er gar das gesamte Auditorium als widerstandsfähige Pfundskerle: "Wir alle haben ein intaktes Immunsystem und ein intaktes Immunsystem macht den Menschen stark gegen einen Virus." Kickl gerät bei der Rede ein wenig in Rage: "Ich freue mich auf den Tag, wo wir den Sieg verkünden können". Der Schamane meines Vertrauens würde dem ehemaligen Innenminister die Chakren bei Gelegenheit ordentlich durchputzen und ihm ins Gewissen reden: Wer sich aufführt wie ein Rumpelstilzchen, dem haut es das Immunsystem flott zusammen, so viele steirische, knackige Äpfel kann er gar nicht essen.

Spaßvogel Düringer hat kein Mitleid mit Dicken

Aber auch aus der Spaßecke kommen wertvolle Hinweise. Der Kabarettist Roland Düringer fragt in einem Talk: "Wir reden seit März über Zahlen, habt ihr irgendwann wen gehört, über das Immunsystem zu reden?". Düringer hat nicht nur Fragen zum Immunsystem, er hat auch Antworten parat für Dicke, Alte und Kranke, die ihr Immunsystem in den letzten Jahren nicht mit Sport, Lebensfreude und Gemüse gestählt haben: "Ich fühle mich nicht verantwortlich für einen 73-Jährigen, der 110 Kilo hat, Kettenraucher war, sich nie bewegt hat und jetzt sudert, wenn er Corona hat und zugrunde geht". Man spürt hier sehr viel Empathie, nicht? 

Vitaminpräparate für ein starkes Immunsystem, oder?
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Bioladen macht sich stark für Nahrungsergänzungsmittelindiustrie

Auch bei den Biofreaks ist das "starke Immunsystem" ein Burner. Der Bioladen Netswerk in Steyr empfiehlt auf seiner Webseite, der "Vitalkraft zu vertrauen" in Sachen Corona. Die Freunde der Nachhaltigkeit machen aber nicht nur Stimmung fürs Immunsystem, sondern auch gegen Impfungen und für die "Spaziergänge" mit den lokalen Schwer- und Leerdenkern. Beim Thema "starkes Immunsystem" verweisen sie auf ein "Spitzengespräch zu Vitamin D." Das "Spitzengespräch" führt der deutsche Mediziner Jörg Spitz. Er vertritt seit Jahren die These, wonach die Bevölkerung generell an einer Unterversorgung mit Vitamin D leidet. Er propagiert die Einnahme des Vitamins in Mengen, die dem zehnfachen dessen entspricht, was Experten empfehlen. Spitz ist als "Vitamin D-Papst" bekannt und betreibt die Webseite "Spitzen-Prävention". Welche Produkte der Mediziner in seinem Webshop verkauft? Das werden Sie kaum erraten.    

Das Immunsystem als Metapher: für einen gestählten Körper

Wer auch immer mit Freunden angeblicher Alternativmedizin zur Causa Corona diskutiert, der wird auf das Immunsystem angesprochen. Das "gute Immunsystem" ist Metapher für einen starken Körper und Geist, den Kickl und Düringer für sich in Anspruch nehmen. Das "gute Immunsystem" ist die Belohnung für den, der brav joggt und waldbadet, auch mal kalt duscht, in saure Äpfel beißt und einen großen Bogen um Dosengulasch und -bier macht. Das "gute Immunsystem" inszeniert den körper- und geistbewussten Menschen, der hart wie Kruppstahl den Unbillen des Lebens und den Angriffen von Viren und Bakterien zu trotzen vermag. Und weil sich die Supermarkt-Kassierin, die den Tag im neonbeleuchteten Souterrain verbringt, ein wenig schwer tut beim natürlichen Stählen des Körpers, offeriert eine gut geölte Marketing-Maschinerie einen properen Boost, der das Immunsystem künstlich aufzupeppen vermag: ein Allerlei an Vitaminpillen und -pulvern, das die Nahrungsergänzungsmittelindustrie für uns zu stolzen Preisen bereit hält. 

Den Appell an die britischen Soldaten hörten die Deutschen: "Esst Karotten".
foto: World Carrot Museum

Haben "Karotten" die Luftschlacht um England entscheiden

Der Hype um Vitamine in unseren Breiten hat auch einen zeitgeschichtlichen Hintergrund. 1940 begann die Luftschlacht um England. Die deutsche Luftwaffe war etwas überrascht von der Trefferquote der Royal Air Force in Nacht und Dämmerung. Die beruhte auf einem Radarsystem, von dem die Deutschen nichts wussten und – aus der Sicht der Briten – besser länger nichts wissen sollten. Die Briten indes wussten, dass die Deutschen ein Faible für "Naturheilmittel" hatten und vor allem an den erst kurz zuvor entdeckten Vitaminen einen Narren gefressen haben. Die deutschen Soldaten erhielten "V-Drops", für die Waffen-SS wurde an speziellen Vitaminpräparaten geforscht. Die Briten lancierten Plakate, die weniger an die eigenen Soldaten gerichtet waren, sie sollten die deutschen Verantwortlichen auf eine falsche Fährte locken. Darauf abgebildet waren ein britischer Soldat und ein Aufruf: "Esst Karotten" – "Die Nachtsicht entscheidet über Leben und Tod."  Die Legende von den Karotten, die besonders gesund seien für die Augen und einem wahre Adleraugen verschafften – wer hat das in seiner Kindheit nicht gehört von Opa und Oma? 

Chemiekonzern: "Hokusopkus machen" um die Vitamine

Schon vor knapp 90 Jahren waren Vitamine ein Marketinggag. Anfang der 30er-Jahre forschte der Schweizer Pharmakonzern Hoffmann-LaRoche an der industriellen Herstellung von Vitamin C, allzu euphorisch schien man nicht. In einem internen Papier konstatierte man, es gebe „keine medizinische Notwendigkeit für das Vitamin, außer gegen Skorbut“. Die Wissenschafter machten sich über den "Vitamin-Fimmel" lustig, die Strategen im Konzern indes frohlockten. Die Abteilung für „wissenschaftliche Propaganda“ empfahl in geschäftstüchtiger Voraussicht, was bis heute als angeblicher Vitamin-Mangel nachhallt: Es sei rund um das Vitamin C „lediglich etwas Hokuspokus zu machen, um den Patienten eine neue Krankheit anzudichten – oder zumindest eine Schwäche“. 

Der Hokuspokus zeigte jedenfalls Wirkung. Noch im Jahr 1944 bestellten die Nationalsozialisten bei Pharmakonzernen 200 Tonnen Vitamin C. Dass man mit Vitaminen und einem starken Immunsystem keinen Krieg gewinnt, wissen wir. Dass Vitamine und ein daraus imaginiertes tolles Immunsystem eine Pandemie nicht aufhalten können und nicht viel mehr sind als ein lukratives Geschäft, das müssen manche noch lernen. (Christian Kreil, 13.4.2021)

Christian Kreil bloggt rund um Esoterik, Verschwörungsplauderei und Pseudomedizin. Soeben erschien sein Buch "Fakemedizin".

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