Im Sommer 1800 fand in Wien ein denkwürdiges Mittagessen statt: Das britische Ehepaar Nisbet war auf dem Weg nach Konstantinopel, weil ihre Tochter schwanger und kurz vor der Entbindung war. Die beiden waren nicht bloß Touristen: Ihre Tochter war – 100 Jahre nach Lady Montague – wieder die Frau des britischen Botschafters am osmanischen Hof. Das Tischgespräch, das sich an einem der Sommertage im Haus des britischen Botschafters in Wien abspielte, drehte sich daher nicht zufällig um die Kinder und die Gefahren, die ihnen von allen möglichen Krankheiten drohten.

Der Schweizer Jean de Carro legte in Wien den Grundstein für die Verbreitung der Kuhpockenimpfung in die ganze Welt.
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Der Wiener Arzt und Impfpionier Jean de Carro, der fließend in englischer Sprache parlieren konnte, war Gast des britischen Botschafters. Die beiden besorgten Großeltern versprachen, "alles aufzubieten, um das Kind, zu dessen Empfang auf der Welt sie die lange Reise unternommen hatten, aufs baldigste an dieser Wohlthat Theil nehmen zu lassen". Schon wenige Wochen später, am 23. September 1800, verfasste der britische Botschafter in Konstantinopel einen persönlichen Brief an den Arzt in Wien. Er habe sich von der schützenden Wirkung der Kuhpockenimpfung überzeugen lassen und bitte um die Zusendung des Impfstoffs. Der Schreibtisch des britischen Botschafters in Konstantinopel entwickelte sich in den kommenden Jahren zur globalen Drehscheibe für Anfragen zum Impfstoffversand. "Man wendet sich so häufig an mich, man verlangt ihn nach Bassora, Indien und Ceylon, ich ersuche Sie daher auf das dringendste, den Doctor de Carro dahin zu vermögen, mir mit jeder reitenden Post welchen zu senden, bis ich ihm die Nachricht ertheile, damit inne zu halten", schrieb der britische Botschafter Elgin an seinen Kollegen Paget in Wien.

Wie der Versand gelang

Den Briten selbst war es nicht gelungen, den Impfstoff bis in die entferntesten Ecken ihres Empires zu schicken. Wien wurde deshalb zu einer wichtigen Drehscheibe. Wir wissen zu wenig über die genauen Transportmodalitäten, um die genaue Reisezeit abzuschätzen, die der Impfstoff in dieser Zeit (noch etwa 35 Jahre vor Einführung des Dampfschiffverkehrs im Mittelmeer) von Wien nach Bagdad oder Basra brauchte, doch andere Korrespondenz legt nahe, dass es knappe sechs Wochen gewesen sein müssen. Der Versand des Impfstoffs und der Austausch über Methoden und Erfahrungen waren längst zu einer internationalen Angelegenheit geworden.

Darstellung der Kuhpocken am Euter aus einer wissenschaftlichen Arbeit des Italieners Sacco. Von ihm erhielt Jean de Carro den Impfstoff für den Versand nach Asien.
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Der gebürtige Schweizer Jean de Carro orientierte sich in Wien an den Methoden des Briten Edward Jenner und entwickelte sie weiter; der Impfstoff, den er in Wien für die Verwendung in Bagdad vorbereitete, stammte von lombardischen Kühen und war ihm und anderen Ärzten aus Mailand von Luigi Sacco, dem dortigen Impfpionier, geschickt worden. Als Verteilweg nutzte er britische Diplomatenpost. Als der Kuhpockenimpfstoff aus der Lombardei in Wien eintraf, übertrug de Carro das Virus auf ein "sehr gutwilliges Kind". Den von dem Kind gewonnenen Impfstoff schloss er zwischen zwei Glasplatten ein und ließ die Platten, um sie vor der Austrocknung zu schützen, von einem Wachszieher in heißes Wachs tauchen. Die Kugeln legte er in Kisten, die mit Papierschnitzeln gefüllt waren. Damit gelang der Versand – und zwar so weit wie nie zuvor.

Der Impfstoff kommt nach Indien

Mit dem lombardischen Kuhpockenvirus aus Wien wurden in Basra im Frühjahr 1802 Matrosen geimpft, die auf dem Weg nach Bombay waren. Ihnen gab der Wundarzt "mit Kuhpockenstoff geschwängerte Materialien" samt Instruktionen mit, um in Indien die Kuhpockenimpfung einzuführen. In Indien wartete die dortige Sanitätsverwaltung der Briten schon dringend auf den Impfstoff. Als Impfstoff aus Basra in Indien ankam, hatte man bereits erfolglos versucht, Impfstoff aus Großbritannien zu erhalten. Edward Jenner hatte selbst Schriften und Vakzine nach Indien geschickt, doch das Schiff war auf der Reise untergegangen. Andere Versuche, Impfstoff zu erhalten, waren offenbar nicht geglückt, weil er selbst nicht in der Lage gewesen war, den Impfstoff richtig zu verpacken. Auch der Impfstoff aus Basra brauchte 40 Versuche, bis ein Kind an den Kuhpocken erkrankte. Am 14. Juni 1802 impfte der britische Kolonialmediziner Dr. Helenus Scott in Bombay die dreijährige Anna Dusthall erfolgreich.

Dem Monster der Krankheiten werden die Impfungen geopfert. Die Kämpfer für die Impfung erscheinen im Hintergrund. Zeitgenössische Karikatur aus dem Jahr 1802.
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Der aus ihr gewonnene Impfstoff diente nun zur Weiterverbreitung der Impfung in Indien. Weil man sich auf die Übermittlung des Virus in Glasbehältnissen nach den Erfahrungen mit den aus Großbritannien geschickten Viren nicht mehr verlassen wollte, ging man in Indien dazu über, Kinder als Träger der Kuhpockenlymphe zu verwenden. Auch das hatte de Carro in Wien schon erprobt: Er hatte an Kuhpocken erkrankte Kinder nach Böhmen mitgenommen und mit dem Sekret ihrer Pusteln dann dort andere Kinder geimpft. Um das Virus in Indien von Madras nach Kalkutta zu bringen, benötigte man fünf Kinder und fünf Wochen. Das Unternehmen gelang, und das Interesse an de Carros Methoden war groß. Im April 1803 schrieb de Carro an den Vater der Kuhpockenimpfung, Edward Jenner, nach England und informierte ihn ausführlich, wie er den Impfstoff verpackt und eingeschlossen hatte. De Carros Wissen um diese Techniken dankte man ihm im Britischen Empire schon 1802 mit einem Artikel in einer in Bombay erscheinenden Zeitung, in dem seine Rolle bei der Zusendung des Impfstoffs gewürdigt wurde. (Marcel Chahrour, 10.3.2021)

Fortsetzung folgt.