Der bekannte Historiker Timothy Snyder ist Professor an der Yale University und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen. Er war Gast des Symposions Dürnstein.

Foto: IWM / Klaus Ranger

Der US-Historiker Timothy Snyder wünscht sich ein europäisches Geschichtelehrbuch. Innerhalb eines Schuljahres sollten alle jungen Menschen in Europa oder der EU über die gemeinsame Vergangenheit, vor allem das 20. Jahrhundert, lernen.

Als Grund nennt Snyder im Rahmen des zehnten, ausschließlich online stattgefundenen Symposions Dürnstein vergangenes Wochenende, dass die einzelnen Nationalgeschichten kein konsistentes Puzzle ergeben: "Nationalstaaten spielen in der modernen europäischen Geschichte kaum eine Rolle."

Die meisten Länder seien die längste Zeit imperiale Weltmächte oder ein Teil von solchen gewesen. Nach kurzen, wenig erfolgreichen Intermezzi als Nationalstaat wurden sie Teil der europäischen Gemeinschaft. Kolonial- und Großmächte wie Großbritannien, die Niederlande und Russland führten noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Indien und Indonesien Kriege, marschierten in Ungarn und Afghanistan ein. So lange, bis sie die Niederlage ihres Imperiums eingestehen mussten. Auch der Zweite Weltkrieg sollte als imperialer Krieg Deutschlands in Richtung Osteuropa betrachtet werden.

Zukunftsideen

Der Titel des von der NÖ Forschungs- und Bildungsges.m.b.H. (NFB) veranstalteten Symposions lautete "Lebensmittel Bildung". Gemeinsam war den Vortragenden der kritische, oft auch optimistische Blickwinkel, mit dem sie ihre Zukunftsideen zusammenführten. Der Osteuropaspezialist Snyder ist Professor an der Universität Yale und Permanent Fellow des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM).

Diese Perspektive Snyders vom imperialen Krieg Deutschlands zeigt, dass mit einem zweiten Mythos aufgeräumt werden muss: "Man sagt, die Europäische Union entstand aus der Erkenntnis des Zweiten Weltkriegs heraus, dass Krieg schlecht sei und man für Frieden sorgen müsse. Das ist nicht wahr", sagt der Historiker. Diese Erzählweise sei jedoch attraktiv, weil sie durch den Fokus auf europäischen Frieden die imperialen Kriege im Rest der Welt ausblendet.

Was kommt nach dem Weltreich?

Der eigentliche Zweck der EU ist laut Snyder, einen Ersatz für imperiale Strukturen zu stellen und somit die Frage zu beantworten: Was kommt nach dem Weltreich? Und mit wem will man politische, ökonomische und kulturelle Entscheidungen treffen? Durch diese Perspektive auf die EU werde man sich einer wichtigen Gemeinsamkeit bewusst, bleibe aber selbstkritisch.

Zum Untertitel der Veranstaltung, "Was wir in unbeständigen Zeiten brauchen", trug die Psychologin Leonie Ascone Michelis mit Anregungen aus Neurowissenschaft und klinischer Psychologie bei. Eine Schwierigkeit ergebe sich für Menschen aus der evolutionären Mismatch-Hypothese. Diese besagt, dass sich das menschliche Gehirn nicht so schnell an Informationsflut und Überfluss anpassen konnte, die heutzutage für viele Personen den Alltag prägen.

Fühlt sich bedrohlich an

"Das fühlt sich für unser Gehirn sehr bedrohlich an", sagt Ascone Michelis, die an der Uniklinik Hamburg-Eppendorf arbeitet: "Wir sind kreativ darin, Horrorszenarien zu entwickeln, und geraten durch Angst vor unserem Scheitern in einen Dauerstresszustand." Gleichzeitig ist das Gehirn in der Lage, sich strukturell weiterzuentwickeln.

Daher könne man lernen, sich negativer Denkmuster bewusst zu werden, was vor allem in Krisenzeiten wichtig ist. Die Wahrnehmung der eigenen Gefühle und Körperwahrnehmung helfen dabei, Abstand und mehr Handlungsfreiheit ohne lähmende Ängste zu gewinnen.

Der Soziologe Kenan Güngör, der das Wiener Forschungsbüro think.difference leitet, beleuchtete Schulbildung unter dem Gesichtspunkt migrationsgeprägter Gesellschaften: "Mehrsprachigkeit ist eine große Ressource, die stärker anerkannt werden sollte." Freilich verliere das Erlernen der deutschen Sprache dadurch nicht an Bedeutung. Dafür braucht es aber einen Anteil an Kindern, die bereits gut Deutsch sprechen: So können sie sich gegenseitig zum Verbessern der Sprache positiv beeinflussen.

Individuelle Interessen wahrnehmen

Für Lehrpersonal ist es grundlegend, Schülerinnen und Schüler mit ihren individuellen Interessen wahrzunehmen, ohne sie von vornherein mit Stereotypen von Gruppenzugehörigkeiten zu belegen. Zugleich hilft das Wissen über soziokulturelle Kontexte, sie besser zu verstehen, wenn sie über spezielle Erfahrungen sprechen.

Auch die Beziehungsebene ist wichtig: "Kinder brauchen das Gefühl: Wenn ich ein Problem habe, kann ich zu meinem Lehrer, meiner Lehrerin gehen", sagt Güngör. Dabei komme es unheimlich auf die einzelnen Lehrenden an, die im Durchschnitt zu wenig an ihre eigene Gestaltungsfähigkeit glauben.

Pluralisierung der Lehrerschaft

Erschwerend kommt hinzu: "Wir sehen ein Auseinanderdriften der Lebenswelten von Lehrern und Schülern – gerade wenn Letztere geflüchtet sind oder als Minderheit aufwachsen." Viele Probleme kennen Lehrende kaum, weil sie eher aus der österreichischen Mittelschicht kommen und keine biografischen Bezüge zu Erfahrungen vieler Schüler haben.

"Hier müssen wir auf eine Pluralisierung der Lehrerschaft achten, damit sie auch im Lehrerzimmer mit mehr Einsicht über solche Themen sprechen kann", sagt Güngör. Zudem hätten Schülerinnen und Schüler dann Vorbilder aus ihren eigenen Milieus, die den Horizont ihrer Möglichkeiten erweitern. (Julia Sica, 10.3.2021)