Der Schneeregenpfeifer, ein kleiner in Nord- und Südamerika verbreiteter Vogel, hat die traditionellen Familienklischees hinter sich gelassen: Bei dieser Art verlässt das Weibchen oft die Familie, um mit einem neuen Partner Nachwuchs zu haben, während sich das ursprüngliche Männchen weiter die Jungen großzieht. Forscher haben nun näher untersucht, welche Umstände die Weibchen zur Gründung einer neuen Familie treibt und warum sich dieses Verhalten für die Spezies insgesamt auszahlt.

Das internationale Team um Clemens Küpper vom Max-Planck-Institut für Ornithologie im oberbayerischen Seewiesen fand heraus, dass das Verlassen des Nachwuchses durch die Mütter häufig aus zwei Gründen erfolgt: Entweder es herrschen schlechte Umweltbedingungen vor, unter denen die Küken trotz der Betreuung durch beide Elternteile sterben. Oder wenn alles prima läuft und die Küken auch ohne das Weibchen eine gute Überlebenschance haben.

Schneeregenpfeifer-Mütter müssen manchmal harte Entscheidungen treffen.
Foto: Clemens Küpper

Es mag rücksichtslos erscheinen, wenn Vogeleltern ihre Küken verlassen, um sich einen neuen Partner zu suchen. Theoretische und experimentelle Studien haben jedoch gezeigt, dass dies für die Eltern oft von Vorteil ist, selbst wenn sie bereits Energie und Zeit in die Brut investiert haben. Verpaaren sie sich nach dem Verlassen einer erfolglosen Brut erneut, können sie ihren Fortpflanzungserfolg insgesamt erhöhen.

Männlicher Überschuss

Schneeregenpfeifer (Charadrius nivosus) brüten in der Gezeitenzone oder an brackigen Binnenseen brüten, eine Umwelt, die großen Druck auf die Eltern ausübt, denn die temporäre Wasserkörper trocknen oft aus, und viele Küken verdursten oder verhungern. "Männchen haben in allen Lebensstadien Überlebensvorteile", sagt Küpper. "Obwohl aus den Eiern gleich viele Weibchen und Männchen schlüpfen, gibt es in der erwachsenen Population deshalb einen Überschuss an Männchen."

Weibchen sind also seltener, aber damit im Vorteil bei der Partnersuche. Dem entsprechend gestaltet sich bei den Schneeregenpfeifern auch die Verteilung der Elternrollen: Männchen kümmern sich um die Jungen, bis sie flügge sind, während die Weibchen bisweilen die Familien verlassen und sich für eine neue Brut mit einem anderen Partner zusammenschließen.

Überlebenschancen

Die Forscher analysierten das elterliche Verhalten und das Überleben von mehr als 260 Bruten über einen Zeitraum von sieben Jahren. Davon wurden mehr als 70 Prozent von den Weibchen verlassen. Zwar reicht ein Elternteil für die Betreuung oft aus, da die Küken frühreif sind und die Nahrung selbst finden. Die Studie zeigt jedoch, dass die Küken einer verlassenen Brut tatsächlich seltener überleben als in anderen Bruten, bei denen die Weibchen länger bleiben.

Der Nachwuchs wird bei Schneeregenpfeiffern häufig von den Männchen alleine großgezogen.
Foto: Clemens Küpper

Neuanfang für den Fortpflanzungserfolg

Treffen Schneeregenpfeifer-Mütter hier also die falschen Entscheidungen? Die Wissenschafter fanden heraus, dass die Jungtiere eher zu Beginn der Brutsaison aufgegeben werden. Das erscheint insofern sinnvoll, als es dann mehr Möglichkeiten für das Weibchen gibt, sich wieder zu verpaaren. Auch die aktuelle Anzahl der Küken ist wichtig: An Tagen, an denen ein Küken stirbt, verlassen die Weibchen besonders häufig die Brut.

"Das deutet darauf hin, dass Weibchen, die sich zunächst für die Brutfürsorge entschieden haben, ihre Brut verlassen, wenn ihre Küken sterben", sagt Krisztina Kupán, Erstautorin der im Fachjournal "Behavioral Ecology" veröffentlichten Studie. Diese Weibchen versuchen, den Fortpflanzungserfolg zu retten, indem sie mit einem neuen Männchen von vorne beginnen.

Vernünftig und flexibel

Die Wissenschafter kamen letztlich zu dem Schluss, dass es vor allem zwei Gründe für die Weibchen gibt, ihre Brut zu verlassen und sich neu zu verpaaren: Die Küken haben auch mit einem Elternteil gute Überlebenschancen, das Weibchen kann also gehen und sich weiter vermehren. Oder aber die Küken sterben, obwohl beide Eltern die Brut pflegen. Das bedeutet, dass die Bedingungen für die Kükenaufzucht so schlecht sind, dass zusätzliche elterliche Fürsorge wenig für das Überleben der Küken bringt.

Stattdessen versucht das Weibchen, seinen Fortpflanzungserfolg zu erhöhen, indem noch einmal zu brüten beginnt. Oft wechselt sie dazu sogar das Brutgebiet. "Die Weibchen sind flexibel und treffen vernünftige Entscheidungen", sagt Kupán. "Sie reagieren sensibel auf die Umweltbedingungen und bleiben nur dann bei den Küken, wenn sie substanziell zu deren Überleben beitragen können." (red, 11.3.2021)