Eine Japan-Ausstellung in Wien, die selbst den japanischen Premier beschäftigte: 2019 war im Museumsquartier "Japan Unlimited" zu sehen. Hier die Super Rat von Chim-Pom.

Foto: Yoshimitsu Umekawa

Der eine lebte über 20 Jahre lang in Japan, der andere zog 2006 dorthin: Der Künstler Edgar Honetschläger und der Schriftsteller Leopold Federmair kennen das Land und seine Kulturszene seit vielen Jahren. Ein Gespräch über acht Zeitzonen hinweg anlässlich des zehnten Jahrestags der Reaktorkatastrophe von Fukushima.

STANDARD: Man sagt, es gebe in Japan eine Zeitrechnung vor und eine nach Fukushima. Entspricht das Ihrer Wahrnehmung?

Federmair: Die Zeitrechnung hat in Japan offiziell vor rund zwei Jahren neu begonnen, als sich der alte Tenno zurückgezogen hat. Natürlich war Fukushima ein Einschnitt, ich sehe aber keine großen Umwälzungen, die von der Katastrophe ausgelöst worden wären. Die Verhaltensweisen der Menschen haben sich nicht geändert. Unmittelbar nach der Katastrophe wollte man aus der Atomenergie aussteigen, mit der Wahl von Shinzō Abe war das aber hinfällig. Das wurde von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert.

Honetschläger: Es stimmt, es hat sich in der Gesellschaft relativ wenig verändert. Für mich ist Fukushima aber sehr wohl eine von drei großen Zäsuren in Japan. Die erste war die Öffnung Japans zum Westen, die zweite die Niederlage im Zweiten Weltkrieg und die dritte Fukushima. Japaner sind stolz auf ihre technischen Errungenschaften, Fukushima hat diesem Stolz einen Dämpfer versetzt. Das lastet schwer auf der japanischen Seele.

STANDARD: Manche behaupten, Fukushima sei ein Katalysator gewesen, um endlich über gesellschaftliche Probleme zu sprechen. Bedeutete die Katastrophe ein Ende der "Schweigegesellschaft"?

Federmair: Die Grenzen der Technologiegläubigkeit wurden durch Fukushima eindrucksvoll aufgezeigt. Man sollte aber nicht mit dem Finger auf Japan zeigen. Mit dieser nie da gewesenen Katastrophe konnte niemand rechnen. In manchen Aspekten ist Japan sicher zu kompliziert, zu träge, zu hierarchisch. Wenn es rasch und spontan zu agieren gilt, ist die Handlungsfähigkeit oft blockiert.

Honetschläger: Auch wenn die niedrige Wahlbeteiligung (etwa 30 Prozent) nicht gestiegen ist: Das Demokratieverständnis hat sich verbessert, es herrscht ein größeres politisches Bewusstsein. Dieses drückt sich aber wenig in kritischer, künstlerischer Produktion aus.

STANDARD: In westlichen Gesellschaften sind Künstler und Kulturschaffende oft jene, die ihre Finger in die Wunden einer Gesellschaft legen.

Honetschläger: Das ist in Japan anders. Nach Fukushima waren meine Künstlerfreunde wie paralysiert. Es gab neben dem Komponisten Ryūichi Sakamoto und dem Regisseur Hayao Miyazaki sehr wenige Intellektuelle, die bei Anti-Atomkraft-Protesten auftraten.

Federmair: Fukushima wird da und dort im kulturellen Schaffen thematisiert, es ist aber kein Dauerthema. Erst heute habe ich einen Essay von Natsuki Ikezawa wiedergelesen, einem 1945 geborenen Schriftsteller, der sich direkt auf die Katastrophe bezieht. Er argumentiert, dass ein Umdenken notwendig sei, sein Zugang ist antikonsumistisch, small is beautiful gewissermaßen. Damit richtet er sich gegen den japanischen Mainstream. Solche Positionen sind aber Einzelfälle.

STANDARD: Adolf Muschg hat Fukushima zum Thema eines seiner Romane gemacht, Doris Dörrie hat es in einem Film verarbeitet, Philipp Weiss im ersten Teil seines fünfbändigen Romanprojekts. Warum sind japanische Künstler so zögerlich, das Thema aufzugreifen?

Federmair: Es ist nicht so, dass Fukushima überhaupt keine Spuren in der künstlerischen Produktion in Japan hinterlassen hätte, aber ich habe das Gefühl, dass sich in Europa manche regelrecht beeilt haben, etwas hinauszudonnern. Ich selbst hätte es als schamlos empfunden, die Katastrophe, die ich nicht unmittelbar am eigenen Leib erlebt habe, in den Mittelpunkt eines meiner Werke zu stellen.

STANDARD: Sie scheinen selbst schon sehr japanisch zu denken.

Federmair: Das ist möglich, kann ich selbst nicht beurteilen. Als Fukushima passiert ist, musste ich in internationalen Medien eine große Katastrophengeilheit feststellen. Das fand ich sehr unangenehm. Ich bin selbst Atomkraftgegner, wenn man aber erwähnt hat, dass bei der Tsunamikatastrophe 20.000 Menschen umgekommen sind, bei der Atomkatastrophe aber in den ersten Tagen niemand, wurde man regelrecht niedergemacht. In Japan haben wir in den Tagen und Wochen nach der Katastrophe gehofft, dass der Reaktor nicht wie in Tschernobyl in die Luft fliegt. International hat man sich wohlig gegruselt.

Honetschläger: Ich verstehe, wenn Leopold von Scham spricht. Auf der Videoplattform Sound of Sirens, die ich gemeinsam mit Sylvia Eckermann und Yukika Kuda nach der Katastrophe ins Netz gestellt habe, war es uns wichtig, dass nicht wir unsere Erfahrungen verarbeiten. Wir haben japanischen Künstlern die Gelegenheit geboten, ihre Beiträge zum Thema Fukushima hochzuladen. Sie sollten sich in Sicherheit äußern können.

STANDARD: Japan ist doch nicht Nordkorea.

Federmair: Demokratie wird in Japan nur gespielt, das ist seit der Niederlage 1945 und der Okkupation durch die Amerikaner so. Andererseits ist es ein freies Land. Wegen öffentlicher Äußerungen wird niemand eingesperrt, es hat in Japan aber kaum jemand das Bedürfnis, öffentlich zu reden. Man spricht vielleicht im innersten Familienkreis über Politik, aber nicht öffentlich.

STANDARD: Wie sind die Reaktionen, wenn jemand kritisch ist?

Honetschläger: Als wir im Vorjahr in Wien mit japanischen Künstlern die kritische Ausstellung Japan Unlimited machten, drang das bis zu Premierminister Abe vor. Die japanische Gesellschaft ist grundverschieden von der unsrigen. Sie umfängt einen wie ein weicher Polster. Es geht darum, vor sich selbst an die anderen zu denken, das Individuum ist nicht so ausgesetzt wie bei uns. Je bedeutender du wirst, umso kleiner musst du dich machen, weil du ansonsten eine Gefahr für die Gesellschaft darstellst.

STANDARD: Gibt es Kanäle für Kritik?

Federmair: Ich glaube, es gibt in der Bevölkerung schlichtweg kein Bedürfnis danach. In der Zeit rund um 1968 gab es Protestbewegungen wie zum Beispiel gegen die Errichtung des Flughafens Narita. Das war gewaltig, aber auch gewalttätig. In den 1970er-Jahren flaute das schnell wieder ab. Der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Kenzaburō Ōe hat damals diesen antiautoritären Kampf verkörpert. 1964 hat er ein Hiroshima-Tagebuch herausgebracht, er war damals ein Star. Das ist er in Japan schon lange nicht mehr, auch seine Bücher verkaufen sich nicht mehr gut. Er ist außerhalb des Landes viel angesehener.

STANDARD: Wer sind die Künstler und Kulturschaffenden, deren Stimmen Gewicht haben?

Federmair: Haruki Murakami ist in Japan genauso wie außerhalb des Landes ein Star. Innerhalb Japans auch sein Namensvetter Ryū, er hat über Fukushima eine Erzählung geschrieben. Haruki macht zwar keine direkten politische Äußerungen, sehr wohl aber gesellschaftliche. Eine nennenswerte kritische Bewegung gibt es aber nicht.

Honetschläger: Man darf ein wichtiges Prinzip, das der japanischen Gesellschaft zugrunde liegt, nicht außer Acht lassen: den Konfuzianismus. Die Gesellschaft fügt sich in den Glauben, dass die Oberen im Sinne aller das Richtige tun. Das mag einer der Gründe sein, warum Intellektuelle und Künstler nicht die Finger auf Wunden legen. Eine Diskurskultur in unserem Sinne ist dem Land fremd.

STANDARD: Nach 1989 gab es den Ruf nach dem ultimativen Wende-Roman. Gibt es so etwas wie das definitive Fukushima-Kunstwerk?

Federmair: Nein, es gibt keinen japanischen Fukushima-Roman, nur ausländische.

Honetschläger: Mir ist weder ein maßgeblicher Fukushima-Film noch ein Fukushima-Kunstwerk bekannt. (Stephan Hilpold, 10.3.2021)