Bild nicht mehr verfügbar.

Aufsteigenden Rauch vom Reaktor 3 in Fukushima zeigte der japanische Fernsehsender Nippon TV.

Foto: Picturedesk.com / AFP

Die Fernsehbilder der Explosionen im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi haben sich in das kollektive Gedächtnis der Welt eingebrannt. Zuvor hatten das Beben und der Tsunami vom 11. März 2011 alle Kühlsysteme der Anlage ausgeschaltet. Die Kerne der Reaktoren 1, 2 und 3 schmolzen, während gebrauchte Brennstäbe in den Abklingbecken von Reaktor 4 sich zu entzünden drohten. Rund um den Globus hielt man den Atem an – im schlimmsten Fall hätten die 38 Millionen Bewohner Tokios evakuiert werden müssen.

In den folgenden zehn Jahren hat sich der Schauplatz des Super-GAUs zur größten Baustelle von Japan entwickelt. Die Fortschritte sind zwar spürbar: Damals mussten die Arbeiter Schutzanzüge und Atemmasken tragen, damit kein strahlender Staub auf die Haut und in die Lunge kam. Heute können Besucher die drei havarierten Meiler von einer 100 Meter entfernten Anhöhe in Alltagskleidung betrachten, da alle Flächen zubetoniert wurden.

Webcam-Aufnahmen von Fukushima, die zwischen 10. und 25. März 2011 entstanden.
Stiegsfeld

Die Strahlendosis auf dem Gelände während einer Stunde ist niedriger als bei einem Flug zwischen Japan und Europa. Anders als in Tschernobyl explodierte in Fukushima nämlich kein Reaktorkern mit Uran und Plutonium. Vielmehr gelangten über Wasserstoff, der aus den Druckbehältern abgelassen wurde, vor allem radioaktive Jod- und Cäsium-Isotope ins Freie. Das Jod ist bereits zerfallen. Das Cäsium haftet an anderen Stoffen, was die Dekontamination von Flächen erleichtert.

Ferngesteuerter Kran

Im Inneren der Reaktorgebäude blieb die Strahlung zu hoch für längere Aufenthalte. Daher ziehen sich die Aufräumarbeiten in die Länge. Verstärkungen und Wände stellen sicher, dass radioaktive Materialien nicht aus den Gebäuden treten. Derzeit sammelt ein ferngesteuerter Kran Schutt und Trümmer auf dem Dach von Reaktor 1 ein.

Satellitenaufnahme des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi vom 18. Februar 2021. Auffällig sind die über Tausend aufgereihten Wasserbehälter.
Foto: EPA/MAXAR TECHNOLOGIES

An Reaktor 2 dockt eine Plattform an eine Öffnung in der Außenwand an. Über Reaktor 3 sitzt eine Kuppel mit einem ferngesteuerten Kran. Damit wurden bis Ende Februar alle 566 abgebrannten Brennelemente aus den Abklingbecken über dem Reaktordruckbehälter geholt. Der mächtige Anbau, der die Ruine von Reaktor 4 stabilisiert, diente der abgeschlossenen Bergung von 1535 alten Brennelementen.

Das Fukushima-Kraftwerk am 14. März 2011 nach dem schweren Erdbeben.
Foto: MAXAR TECHNOLOGIES

Doch das Hauptbild dominieren endlose Reihen von insgesamt 1000 riesigen Tanks mit 1,3 Millionen Kubikmeter Wasser. Jede Woche kommt ein neuer Tank dazu. Denn zum einen geht die Kernspaltung in den Reaktoren weiter, dabei entsteht Wärme. Daher wird das Corium, wie die Schmelzmasse aus Uran, Plutonium, Steuerstäben und Metallstrukturen heißt, ständig von frischem Kühlwasser umspült. Zum anderen dringt fortlaufend Grundwasser in die Keller der Reaktorgebäude ein, vermutlich durch bebenbedingte Risse in Wänden und an Zuleitungen.

30 Meter tiefe Eiswand

Als Gegenmaßnahme installierte Betreiber Tepco vor drei Jahren eine 30 Meter tiefe "Eiswand". Eine minus 30 Grad kalte Flüssigkeit in 1500 Rohren friert den Erdboden auf einer Länge von 1,5 Kilometern um alle drei Reaktoren ein. Doch die Wand mit 270 Millionen Euro Baukosten erfüllt ihre Aufgabe nicht richtig. Die Menge des eindringenden Grundwassers verringerte sich nur um zwei Drittel auf immer noch 140 Kubikmeter täglich.

Das gebrauchte Kühlwasser und das abgepumpte Kellerwasser durchlaufen anschließend eine Reinigungsanlage, die 62 radioaktive Stoffe filtern kann. Der Großteil des gespeicherten Wassers enthält nach offiziellen Angaben nur noch radioaktives Tritium, das sich technisch auch nicht mehr entfernen lässt. Dieses Wasser möchte Tepco ab Sommer 2022 in den Pazifik einleiten, weil es dann für neue Tanks keinen Platz auf dem Gelände mehr gibt.

Video: Ablauf der Katastrophe von Fukushima.
Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire - IRSN

"Die Tritium-Konzentration im Meerwasser würde dabei nur im Radius von zwei Kilometern die normale Hintergrundstrahlung übersteigen", behauptet die zuständige Beamtin Yumiko Hata. Das Industrieministerium argumentiert, dass viele Atomanlagen im Regelbetrieb tritiumhaltiges Wasser ins Meer leiten. Aber die Regierung in Tokio zögert mit der Genehmigung. Die Fischer der Region und die Anwohner lehnen so wie Nachbarland Südkorea eine Verklappung im Pazifik ab.

Schwierig einzuhaltender Zeitplan

Damit fangen die Probleme bei der geplanten Stilllegung erst an. Laut der "Roadmap" der Regierung soll in 30 bis 40 Jahren eine "grüne Wiese" entstehen. Das heißt: Vier kaputte und zwei intakte Meiler wären abgebaut und die strahlenden Überreste abtransportiert. Experten bezweifeln diesen Zeitplan: "Prinzipiell ist es machbar, Japan hat das Know-how und die finanziellen Mittel", meint Ian McKinley, ein Experte für radioaktive Abfälle und Japan-Kenner. "Aus Gründen der Sicherheit und Kosteneffizienz wäre es aber sicher sinnvoller, die Stilllegung einige Jahrzehnte zu verschieben."

Bild nicht mehr verfügbar.

Ein Geigerzähler zeigt Anfang März 2021 in der Nähe des zerstörten Reaktorblocks Nummer 3 einen Strahlungswert von 231 Mikrosievert pro Stunde an. Zum Vergleich: Die natürliche Ortsdosisleistung liegt in Österreich im Schnitt bei 0,1 Mikrosievert pro Stunde,
Foto: REUTERS/Sakura Murakami

Die japanische Denkfabrik JCER schätzt die Gesamtkosten einer Stilllegung auf bis zu 620 Milliarden Euro, zehnmal mehr als die Regierung angibt. Der Großteil davon entsteht durch die Aufbereitung und Lagerung des Coriums. Der Greenpeace-Berater Satoshi Sato, früher Nuklearingenieur bei General Electric, empfiehlt eine Wartezeit von 50 bis 100 Jahren vor einer Stilllegung. Dann wären die Reaktorinhalte weniger radioaktiv. Ein Beispiel für diese Strategie liefert die britische Atomanlage Windscale, die seit einem Feuer 1957 immer noch nicht abgebaut wurde.

900 Tonnen Corium

In Fukushima hat man noch nicht einmal die 1000 alten Brennstäbe aus den Obergeschoßen von Reaktor 1 und 2 geborgen. Allein diese Prozesse dürften sich bis 2031 hinziehen, fünf Jahre länger als geplant, da die Abklingbecken teils unter Bergen von verstrahltem Schutt begraben sind. Erst danach könnte man beginnen, die knapp 900 Tonnen an hochradioaktivem Corium herauszuholen und für eine Endlagerung aufzubereiten. Jedoch konnten die Tepco-Ingenieure die geschmolzene Masse bislang nicht genau lokalisieren.

Video: Die Zerstörungskraft des Tsunamis, der das Atomkraftwerk von Fukushima schwer getroffen hat.
FOCUS Online

Analyse mit Simulation

Laut einer Computersimulation fraß sich die heiße Masse womöglich bis auf wenige Dutzend Zentimeter an den Metallmantel der äußeren Sicherheitshülle heran. Eine Sonde konnte das Corium am Boden eines Sicherheitsbehälters fotografieren. Nun baut Tepco mit einem britischen Partner einen 22 Meter langen und 4,6 Tonnen schweren Roboter-Teleskoparm.

Nächstes Jahr will man den Arm über eine Schiene in das Innere von Reaktor 2 hineinschieben. Eine Bürste und ein Staubsauger am Ende des Arms sollen bei mehreren Missionen jeweils ein Gramm Corium für eine Analyse herausholen. Reaktor 2 dient als Experimentierfeld, weil es dort keine Wasserstoffexplosion gab.

Deckel öffnen?

Der einfachste Weg wäre, die 60 Zentimeter dicken, dreifachen Betondeckel auf den Reaktoren zu öffnen und die Behälter zu fluten. Das Wasser würde die hohe Strahlung dämpfen. Doch dafür müsste man erst einmal alle Lecks in den Reaktoren finden und schließen. Ein noch größeres Problem tauchte im vergangenen Herbst auf, als die Atomaufsicht NRA extrem hohe Strahlenwerte an den Betondeckeln der Reaktoren 2 und 3 feststellte.

Bei der gemessenen Strahlung von zehn Sievert wäre ein Mensch nach einer Stunde tot. Der Zugangsweg zum Corium ist also hochkontaminiert und müsste erst aufwendig gesäubert werden. Doch Tepco-Manager Akira Ono, der die Stilllegungsoperation leitet, will zum jetzigen Zeitpunkt nicht über die Bergungsmethode diskutieren. "Wenn man zehn Leute fragt, erhält man zehn verschiedene Antworten", sagt Ono. Unabhängige Experten halten die offiziellen Pläne für illusorisch. (Martin Fritz, 11.3.2021)