Rückkehr nach zehn Jahren: Weiter entfernte Areale sind wieder geöffnet.

Foto: AFP / Philipp Fong

Die Atomkatastrophe ereignete sich in schnellen Schritten: Erst löste das Erdbeben am 11. März 2011 die Schnellabschaltung der Atomanlage Fukushima Daiichi aus und unterbrach die äußere Stromversorgung. Dann überschwemmte der Tsunami die Aggregate für die Notkühlung. Bald heizte sich der Brennstoff in drei Reaktoren immer mehr auf, es kam zu Kernschmelzen. Die Kontrollmannschaft ließ Wasserstoff aus den Druckbehältern ab. Explosionen kontaminierten über 1.000 Quadratkilometer vor allem mit strahlendem Caesium und Jod. Mehr als 160.000 Anwohner flüchteten vor radioaktiven Wolken.

Zehn Jahre später verschwinden die sichtbaren Zeichen dieser Ereignisse. Überall in der 20-Kilometer-Zone um die zerstörten Meiler reißen Bagger und Kräne Gebäude und Häuser ab, die durch Beben, Leerstand und Kontaminierung unbewohnbar wurden. Die Halden von Säcken mit den Überresten der Dekontaminierung, die die Landschaft jahrelang verschandelten, sind größtenteils abtransportiert. Auf vielen Feldern stehen heute Solaranlagen, signalisieren einen Neuanfang.

"Licht und Schatten"

Doch der Gouverneur von Fukushima, Masao Uchibori, spricht in seiner Bilanz zum zehnten Jahrestag von "Licht und Schatten". "Zum Licht gehört, dass das Strahlungsniveau gesunken ist. Wir haben dekontaminiert, heute sind nur noch 2,4 Prozent der Präfekturfläche gesperrt", berichtet Uchibori. "Auf der Schattenseite ist zu erwähnen, dass 37.000 Anwohner noch evakuiert sind." Zwar wurden inzwischen alle Evakuierungsbefehle für die 20-Kilometer-Zone aufgehoben. Aber Siedlungen direkt am AKW und in nordwestlicher Richtung sind noch verstrahlt, fast 340 Quadratkilometer. Dort liegt die Radioaktivität um mehr als das 50-Fache über dem Grenzwert von einem Millisievert.

In die Städte und Gemeinden in größerer Entfernung vom Atomkraftwerk sind zwischen 30 und 60 Prozent der früheren Anwohner zurückgekommen. Darunter sind jedoch nur wenige Familien mit Kindern. Oft misstrauen sie den offiziellen Angaben zur Strahlung, viele sind schon woanders heimisch geworden. Laut einer Umfrage wollen zwei Drittel der Evakuierten nie mehr zurück. Unter den Rückkehrern sind daher überwiegend Senioren.

Sehnsucht nach der Heimat

Zum Beispiel die 68-jährige Tomoko Kobayashi, die mit ihrem Mann eine Pension 14 Kilometer nördlich des AKWs betreibt. Sie flüchtete nach der Katastrophe zur Familie ihres Sohnes, der in Nagoya bei Toyota arbeitet. Aber bald sehnte sie sich nach dem Geschmack ihrer Heimat.

"Die Gerichte und Lebensmittel schmeckten in Nagoya nicht so gut wie in Fukushima", erzählt sie in ihrer Pension. "Also gingen wir wieder zurück, um herauszufinden, ob lokale Lebensmittel wieder gegessen werden können." Das Ehepaar schloss sich einer Bürgergruppe an, die eigene Strahlenmessungen von Boden, Luft und Lebensmitteln vornahm. Laut ihren Daten ist der Konsum, etwa von Reis und Gemüse, unbedenklich.

Die Verbundenheit zur eigenen Scholle motivierte auch Seimei Sasaki zur Rückkehr. Seine Familie lebt seit Jahrhunderten nahe dem Atomkraftwerk und lebt von den Erträgen eines kleinen Waldes. Der rüstige 95-Jährige ließ sein schon halb verschimmeltes Wohnhaus mit dem typischen geschwungenen Dach renovieren. Über die Zukunft macht er sich keine Illusionen. "Ich wünsche mir, dass der Wiederaufbau schnell gelingt. Aber bis alles wieder gut läuft, wird es 30 Jahre dauern, vielleicht sogar 50 Jahre", sagt er. "Ich wünsche mir auch, dass mehr Leute wieder Landwirtschaft betreiben. Aber niemand kommt."

Entschädigungen vom Staat

Ein Grund sind seiner Meinung nach die hohen Entschädigungen für den erlittenen Wertverlust, die der Staat an Haus- und Grundeigentümer in der Sperrzone gezahlt hat. "Damit haben sich viele Evakuierte woanders ein neues Haus gekauft und wollen nicht mehr zurück", sagt Sasaki.

Licht und Schatten gibt es auch an der Quelle des Übels: Im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi funktioniert die Kühlung des geschmolzenen Brennstoffs, die Ruinen hielten weiteren Beben stand. Aber die Aufräumarbeiten gehen wegen der Strahlung viel langsamer voran als geplant. Auf dem Gelände sammelten sich auch über 1000 Tanks mit 1,3 Millionen Kubikmeter Wasser an. Der Betreiber Tepco möchte das Wasser in den Pazifik leiten, aber die Regierung zögert, weil es radioaktives Tritium enthält. Auch weiß man immer noch nicht, wo der geschmolzene Brennstoff genau liegt, geschweige denn, wie man ihn bergen könnte.

Anders als in Deutschland hat die Atomkatastrophe in Japan keinen politischen Ruck ausgelöst. Seit über acht Jahren regiert eine rechtskonservative Koalition, die an der Atomkraft festhält. Wegen der erforderlichen Nachrüstung von Sicherheitstechnik konnten allerdings erst neun von vormals 54 Reaktoren wieder starten. Die Meiler erzeugen sechs Prozent des Stroms, vor der Katastrophe betrug der Atomstromanteil fast 30 Prozent. Umfragen zufolge ist eine Mehrheit der Japaner gegen die weitere Nutzung der Reaktoren. Auf die Wahlergebnisse hat sich diese Haltung nicht ausgewirkt.

Keine politische Protestkultur

"Außer in den 1960ern und frühen 1970ern hatte Japan nie eine sehr ausgeprägte Protestkultur – im Gegenteil: Politischer Aktivismus hat seit dieser Zeit eine starke Stigmatisierung erfahren", erläutert die Japanologin Kristina Iwata-Weickgenannt von der Universität Nagoya.

Die Politikverdrossenheit sei hoch und die Hoffnung, dass Straßenproteste Veränderungen bewirken, gering. "Deswegen verwundert es mich nicht, dass die anfänglichen Proteste gegen Atomkraft weitgehend aufgehört haben." Aber zumindest in Fukushima setzt man voll auf grünen Strom. Bis 2040 soll sein Anteil von heute 40 auf 100 Prozent steigen. Atomstrom will man nie wieder erzeugen. (Martin Fritz aus Tokio, 11.3.2021)