Fukushima erinnert daran: die Risiken der Atomkraftwerke sind zu groß, sagen die Wissenschafter Ulrich Brand und Achim Brunnengräber im Gastkommentar.

Fukushima kratzte beträchtlich am Sicherheitsmythos von westlichen Atomkraftwerken. Im Bild: IAEA-Inspektoren im Mai 2011 auf dem zerstörten Gelände.
Foto: AFP/Tepco

Morgen vor zehn Jahren erreichten uns schockierende Meldungen aus Japan. Am Nachmittag des 11. März 2011 kam es in der Folge eines Erdbebens und eines dadurch ausgelösten Tsunamis im Atomkraftwerk (AKW) Fukushima Daiichi in drei Reaktorblöcken zur Kernschmelze. Die Behörden deklarierten einen "katastrophalen Unfall" der Höchststufe. Die Havarie und ihre Folgeschäden werden nach Angaben der japanischen Regierung umgerechnet 170 Milliarden Euro verschlingen.

Nach der Reaktorkatastrophe vor 35 Jahren in Tschernobyl, Ende April 1986, wurde noch von einem singulären Ereignis ausgegangen, oder zumindest davon, dass ein Super-GAU niemals in einem Industrieland passieren wird. Fukushima lehrte die Welt etwas anderes. War das der Beginn des Ausstiegs aus der Hochrisikotechnologie?

In Österreich gab es nach den Auseinandersetzungen um Zwentendorf und der denkbar knappen Volksabstimmung schon 1978 einen Konsens, dass hierzulande kein Atomstrom produziert wird. Weltweit sieht das anders aus, auch wenn im Nachbarland Deutschland Ende 2022 keines der heute noch sechs in Betrieb befindlichen AKWs mehr am Netz sein wird.

Alte Kraftwerke

In 32 Ländern sind momentan 413 AKWs in Betrieb, die im Durchschnitt 30 Jahre alt sind. In einigen Ländern sollen die alten AKWs ertüchtigt werden, um noch weitere zehn oder 20 Jahre Strom produzieren zu können. Dazu gehört auch Frankreich, das die Laufzeiten sogar auf 50 Jahre verlängern will. Damit läuft die Welt sehenden Auges in eine neue Ära des altersbedingten Risikos.

Aber ohne die Altbestände ist es um die Atomenergie schlecht bestellt. 2020 gingen weltweit fünf neue AKWs ans Netz, sechs aber wurden abgeschaltet, fünfzig sind im Bau – ein Dutzend davon schon seit 20 Jahren. In Polen und Usbekistan gibt es Neubaupläne. Doch ohne staatliche Subventionen rechnen sich AKWs schon lange nicht mehr. Bei vielen Projekten kommt es außerdem zur regelrechten Explosion der Kosten, auch bei den neuen Europäischen Druckwasserreaktoren (EPR). In Finnland haben sich die Kosten für den Neubau Olkiluoto 3 bereits vervierfacht.

All das zeigt: AKWs sind gegenüber der Marktdurchdringung von erneuerbaren Energien, die Strom immer günstiger erzeugen und hohe Ausbaupotenziale haben, nicht mehr wettbewerbsfähig. Vor allem aber: Ein Super-GAU ist mit Erneuerbaren vollständig ausgeschlossen.

Das Klimaschutzargument

Der französische Präsident Emmanuel Macron ist einer der prominentesten Befürworter der Atomenergie. Das EU-Klimaziel, bis 2030 etwa 55 Prozent weniger Kohlendioxid-Emissionen (CO2) in die Atmosphäre zu blasen als 1990, sei ohne Atomstrom nicht zu erreichen. Kein Wunder, Frankreich erzeugt mit 56 AKWs, die im Schnitt 35 Jahre alt sind, 70 Prozent seines Stroms.

Auch für die Internationale Energieagentur (IEA) ist die Atomenergie ein wesentliches Element, um ein kohlenstoffarmes Energiesystem mit reduzierten CO2-Emissionen zu erreichen. Selbst der Weltklimarat IPCC, der die Klimaverhandlungen der Vereinten Nationen wissenschaftlich begleitet, weist auf die klimafreundliche Stromerzeugung von AKWs hin.

Atomstrom erzeugt zwar im Vergleich zu Kohle- oder Gaskraftwerken weniger Kohlendioxid, aber CO2-frei ist er deshalb noch lange nicht. Die klimaschädlichen Emissionen entstehen besonders vor und nach der Stromerzeugung, etwa beim umweltbelastenden Uranabbau, beim Kraftwerksbau sowie beim Rückbau und den umfangreichen Bau- und Infrastrukturmaßnahmen zur Zwischen- und Endlagerung.

Und als sogenannte Brückentechnologie vom fossilen ins erneuerbare Energiezeitalter taugen die AKWs auch nicht. Sie entsprechen noch einem zentralistischen Versorgungssystem, sind schwerfällig und lassen sich bei Bedarf nicht kurzfristig hochfahren.

Neue Generation

Als ein weiteres Argument pro Atomenergie neben dem Klimaschutz wird eine neue Generation an Modularen Kleinreaktoren (MKR) angeführt, die wirtschaftlicher und sicherer sei sowie weniger Abfall erzeuge. Doch erstens gibt es diese Generation von AKWs, an denen schon Jahrzehnte geforscht wird, noch nicht. Terrapower von Bill Gates investiert zwar – unterstützt von der US-Regierung – in die Entwicklung. Aber bisher werden nur Forschungs- und Testanlagen gebaut, vom kommerziellen Betrieb sind diese Kraftwerke noch viele Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte entfernt.

Zweitens wächst das Risiko des Strahlenaustritts oder terroristischer Angriffe noch, wenn viele kleine MKR in Betrieb sind. Schließlich besteht ein enger (geo-)politischer, industrieller und technischer Zusammenhang zwischen der zivilen und der militärischen Nutzung der Atomenergie, der auch bei MKR nicht ausgeschlossen werden kann. Denn grundsätzlich gilt: Mit jedem neuen Land, das AKWs in Betrieb nimmt, wie zuletzt die Vereinigten Arabischen Emirate und Belarus, steigt das Risiko der Weiterverbreitung von Atomwaffen. Es ist kein Zufall, dass vor allem die Atommächte an der Nutzung der Kernenergie ein besonderes Interesse haben.

Letztes Aufbäumen

Die Erzählungen über die große Zukunft der Atomkraft für den Klimaschutz und über eine Armada von Kleinreaktoren, die an jedem Ort der Erde Energie erzeugen können, lassen sich auch so deuten: Sie sind das letzte Aufbäumen von Lobby- und Interessengruppen, die die Zeichen des erneuerbaren Energiezeitalters noch nicht erkannt haben. Entweder sie erzielen noch ordentliche Profite mit dem veralteten Kraftwerkspark, oder sie verdienen in der MKR-Forschung mit ihren Versprechungen einer neuen nuklearen Utopie, die die Welt schon in den 1960er- und 1970er-Jahren auf einen energiepolitischen Irrweg geführt hat.

Mit dem Ausbau erneuerbarer Energien ist Klimaschutz schon heute viel effizienter und dynamischer machbar. Österreich ist im Stromsektor mit 80 Prozent erneuerbaren Energien Vorreiter, Deutschland ist mit 50 Prozent ebenfalls gut aufgestellt.

Der aktuelle Digitalisierungsschub, den die Corona-Krise ausgelöst hat, ist ambivalent: Der Stromverbrauch steigt, doch es gibt auch Potenziale, den Verbrauch zu reduzieren. Im Verkehrs- und Wärmesektor sind die Herausforderungen noch groß, die Transformation aber hat auch hier schon begonnen.

Nach vorne schauen

Aber nicht alle wollen nach vorn schauen. Die japanische Regierung will die (noch) geplanten Olympischen Spiele auch in der Präfektur Fukushima veranstalten – der olympische Fackellauf soll dort seinen Anfang nehmen. Der Welt soll gezeigt werden, dass die Folgen des tragischen Unfalls in der Region nun behoben und die technischen Risiken der Atomenergie im Prinzip beherrschbar sind.

35 Jahre nach Tschernobyl und zehn Jahre nach Fukushima können wir sagen: Sie sind es nicht. (Ulrich Brand, Achim Brunnengräber, 10.3.2021)